Ab dieser Ausgabe schreibt Jolinda Daishin van Hoogdalem über Haikus und andere japanische Dichtung. Sie schreibt selbst regelmäßig Gedichte, darunter auch Haikus. Die Natur und Zen sind dabei die große Inspiration; siehe auch die Rubrik Dichter und Zen in dieser Ausgabe. In ihrem täglichen Leben arbeitet Daishin als Akupunkteurin und Massagetherapeutin. Seit einigen Jahren leitet sie die „Body-and-Mind-Wochenenden“ auf Noorder Poort und begleitet Menschen im Zenleven-Thuis-Trajekt.
Herbst
Kirschblüten fallen, Blätter fallen
und der Wind jagt beide über den Boden.
Wir können das, was in den Dingen ist, nicht
mit den Augen oder Ohren festhalten.
Sollten wir es jemals tun können,
dann würde das Leben jeden Dinges spurlos verschwunden sein.
Kersenbloesems vallen, bladeren vallen
en de wind jaagt ze beide over de grond.
We kunnen wat in de dingen ligt niet
met de ogen of oren vasthouden.
Zouden we er greep op krijgen,
dan zou het leven van ieder ding spoorloos verdwenen zijn.
Matsuo Bassho (1644–1694)
Wenn wir versuchen, unsere sinnlichen Erfahrungen festzuhalten, dann verschwindet das Leben daraus. Und dennoch ein Gedicht schreiben. Das Unmögliche in Worte fassen.
Das konnte der japanische Dichter Bassho ziemlich gut. Er wurde durch seine Haikus berühmt. Haikus sind Kurzgedichte, bestehend aus drei Zeilen mit jeweils mit 5 – 7 – 5 Silbengruppen. Sie handeln meistens von einer direkten Erfahrung. Deshalb werden sie auch oft mit Zen in Verbindung gebracht. Es geht darin immer auch um unsere direkte Erfahrung. Aber man muss kein Zen-Übender sein, um Haikus zu schreiben. Jeder kennt direkte Erfahrungen. Die Kunst ist, sie so ins Wort zu holen, dass ein anderer über die Erfahrung staunen kann.
Wehende Schilfrohrwedel
sacht säuselnd im Herbstwind
kein anderes Geräusch
Rietpluimen wuiven
zachtsuizend in de herfstwind
geen ander geluid
Addie Abelman
Der Herbst ist mit seiner zurückziehenden Bewegung für viele Dichter eine Inspiration.
Niedrig über den Schienen
fliegen die Wildgänse
vom Mond beschienen
Laag over de spoorlijn
vliegen de wilde ganzen
door de maan
Shiki (1867–1902)
Traditionell kommen in Haikus ein oder mehrere Wörter vor, die uns gleich darüber Auskunft geben, in welcher Jahreszeit wir uns befinden. Wilde Gänse sind im Herbst unterwegs. Wenn wir sie hören, schauen wir sofort nach oben, und dann sehen wir sie in ihrer Formation am Himmel. Immer eine einzelne Gans an der Spitze. Aber hier nimmt der Dichter sie im Mondlicht wahr. In Japan ist es Tradition, den Herbstanfang damit zu begehen, nach dem Vollmond zu schauen: tsukimi. Es ist ein Moment des Innehaltens im Vergehen der Zeit und der Dankbarkeit für alles, was das Leben uns bis dahin beschert hat. Das Gedicht spricht nicht direkt vom Dichter, auch nicht, dass er in Gesellschaft anderer diesen Vollmond angeschaut hat. Aber man kann es annehmen.
Der Mond kommt regelmäßig in Haikus vor, nicht nur in Herbstgedichten. Eins meiner Favoriten – vielleicht kennst du es ja – ist ein sehr bekanntes Gedicht des Dichters Ryokan:
Das Einzige, was der Dieb
zurückließ: den Mond
in meinem Fenster
Het einige dat de dief
achterliet: de maan
in mijn raam
Ryokan (1758–1831), ein Zen-Meister ohne Tempel, führte ein sehr einfaches Leben. Er hatte nicht viel Besitz: eine Schale, Essstäbchen, eine dünne Decke, aufbewahrt in einer einfachen Hütte. Ein Dieb nahm alles mit, aber Ryokan war dankbar für den Mond, der ihm durch das Fenster schien.
Die Tage werden kälter und ich hole meinen Wintermantel heraus, ein Erbstück von meiner Mutter. Ich war immer ein bisschen neidisch darauf.
Meine Lieblingsfarbe
dein purpurfarbener Wintermantel
trügst du ihn nur noch
Mijn lievelingskleur
jouw purperen winterjas
droeg jij hem nog maar
(Aus dem Niederländischen übersetzt von Marie Louise Linder)
Quelle: Herfst, ZenLeven Herbst 2022