Das verborgene Licht ist eine Sammlung von hundert Koans und Geschichten buddhistischer Frauen, von der Zeit des historischen Buddha bis heute. Jede Geschichte wird von einer Kontemplation durch eine zeitgenössische Lehrerin begleitet und schließt mit einer Meditationsaufgabe, einer Einladung zur Vertiefung und Erforschung. Jiun Roshi hat auch eine Betrachtung zu diesem Buch beigetragen, die wir hiermit freundlicherweise vom Verleger Edition Steinrich übernehmen.
Eine Besprechung des Buches findet sich hier.

Bild einer indischen Prinzessin des 14. Jahrhundert von 1765
Anoja sucht das Selbst
INDIEN, 6. JAHRHUNDERT v. CHR.
Anoja war zu Zeiten des Buddha eine große Königin. Ihr Ehemann, König Ma-
hakappina, reiste zum Buddha, um seine Lehren zu hören, und wurde, zusammen
mit vielen seiner Diener, Mönch. Er schickte einen Boten mit einer Nachricht da-
rüber zurück an seinen Hof, und als Anoja fragte, ob der König ihr eine Botschaft
sende, sagte der Bote: »Er überträgt dir all seine königliche Macht; genieße den
Ruhm und das behagliche Leben.«
Doch Anoja sagte: »Der Buddha kann nicht nur zum Wohle der Männer in
die Welt gekommen sein, er muss es auch zum Wohle der Frauen getan haben.«
Also gingen sie und ihre Dienerinnen ebenfalls auf die Reise, um den Buddha zu
hören und sich ordinieren zu lassen. Mahakappina, jetzt ein Mönch, war ebenfalls
anwesend, doch der Buddha nutzte seine magischen Kräfte, um ihn unsichtbar zu
machen. Als die Königin und ihre Dienerinnen den Buddha sprechen hörten, wur-
den sie alle zu »In-den-Strom-Eingetretenen«, das heißt, sie erreichten die erste der
vier Stufen buddhistischer Verwirklichung. Der Buddha fragte Anoja daraufhin:
»Würdest du lieber den König oder die Natur des Selbst suchen?«
»Die Natur des Selbst«, antwortete sie, ohne zu zögern.
Betrachtungen von Jiun Hogen de Wit
Wie fängt unsere Reise auf dem Buddha-Weg an? In der Geschichte von Anoja sieht
es so aus, als wäre Anoja einfach ihrem Mann gefolgt: Er geht, dann geh ich auch!
Also keine Entscheidung für den Weg selbst, sondern für ihren Ehemann.
Seit 1985 begleite ich Menschen auf dem Zen-Weg, und dabei begegne ich re-
gelmäßig auch Menschen, die mit Zen anfangen wollen, weil ihr Partner oder ihr
Freundin den Weg geht. Nur selten geht das gut. Wahrscheinlich weil der Zen-Weg
nicht einfach zu gehen ist und uns dauernd auf für uns peinliche Weise mit uns
selbst konfrontiert. Eine Motivation, die abhängig von einem Partner entstanden
ist, ist möglicherweise nicht stark genug, um nach einer ersten Begegnung fortzu-
dauern.
Anoja hatte aber noch einen weiteren Antrieb, den Weg zu gehen: »Der Bud-
dha kann nicht nur zum Wohle der Männer in die Welt gekommen sein, er muss
es auch zum Wohle der Frauen getan haben.« Sie war davon überzeugt, dass der
Buddha auch zum Wohle der Frauen da war. Und sie wollte das mit ihrem eigenen
Leben bezeugen! So öffnete sie sich für das Dharma und machte sich auf den Weg.
Als sie den Buddha dann schließlich sprechen hörte, erreichte sie die erste der
vier Stufen buddhistischer Verwirklichung. Kein langer Übungsweg, kein endloses
Meditieren; Anoja hörte den Buddha sprechen, und sie war da!

Das zweite Bild: die Spuren entdecken
Im Zen kennen wir die Zehn Ochsenbilder, welche die verschiedenen Stufen auf
dem Zen-Weg beschreiben. Beim zweiten Bild, dem Finden der Ochsenspur, findet
sich folgender Text:
»Das Lesen der Sutras und das Hören der Lehren brachten den Hirten dahin,
etwas vom Sinn der Wahrheit zu erahnen. Er hat die Spur entdeckt. Nun versteht
er, dass die Dinge, wie verschieden gestaltet auch immer, alle von dem einen Golde
sind und dass das Wesen jeglichen Dinges nicht verschieden ist von seinem eige-
nen Wesen. Gleichwohl vermag er noch nicht, zwischen Echtem und Unechtem zu
unterscheiden, geschweige denn zwischen Wahrem und Unwahrem. Noch kann er
nicht durch das Tor treten. So bleibt auch die Aussage noch vorläufig, er habe die
Spur schon entdeckt.«
Anoja hatte die Spur schon entdeckt, aber sie konnte noch nicht durch das Tor
treten. Als der Buddha sie fragte: »Würdest du lieber den König oder die Natur
des Selbst suchen?«, antwortete sie aber, ohne zu zögern: »Die Natur des Selbst.«
Anoja hat nicht nur den König »aufgegeben«, sie hat auch alle königliche
Macht, den Ruhm und ein behagliches Leben aufgegeben. Was für eine schwierige
Entscheidung muss das gewesen sein! Ein Leben in Reichtum oder in Armut, als
freie Frau oder als Nonne?
Ich begegnete meiner Meisterin, Gesshin Prabhasa Dharma, 1982, und als ich sie
sprechen hörte, wurde etwas in mir entzündet. Ich war keine Königin, aber ich war
recht wohlhabend. Ich hatte einen sehr guten Job, verdiente viel Geld, hatte eine
Eigentumswohnung in Amsterdam, lebte sehr behaglich, und doch …
Offensichtlich war das nicht genug. In dem Moment, als ich das Dharma hörte
und sah, wollte ich nur noch den Zen-Weg gehen. Für mich war das keine schwieri-
ge Entscheidung, es war keine Wahl zwischen dem einen oder anderen, es war ein-
fach das, was ich tun musste. Heute nenne ich es eine Berufung, eine Entscheidung
des Herzens.
Für meine Familie und meine Freundinnen war es unvorstellbar: Wie konnte
ich das alles aufgeben. Sogar meine Wohnung habe ich mit Verlust verkauft. Mit
ein wenig Taschengeld bin ich dann 1985 für mein Zen-Training nach Los Angeles
gegangen.
Ich weiß nicht, wie es Anoja auf ihrem Weg weiter ergangen ist. Wahrscheinlich
hat auch sie erlebt, was wir alle auf unserem Weg erfahren: Momente, die wir als gut
erleben; Momente, die wir als nicht gut erleben. Wie vertraut uns der Zen-Weg mit
der Zeit wird, aber auch wie schwierig er uns manchmal erscheint. Gefährlich sind
die Momente kleiner Zweifel oder wenn wir die Idee haben, wählen zu müssen:
Ich brauche doch eigentlich keine Sesshins mehr zu machen; ich könnte doch auch
weniger meditieren; es geht doch vor allem darum, wie ich es lebe. Ich brauche keine
Lehrerin mehr, inzwischen weiß ich doch, worum es geht. Mein Körper will nicht,
das ist doch ein klares Zeichen dafür, das ich mit der Meditation aufhören sollte …
Woher bekommen wir in solchen Momenten die Motivation, weiterzugehen?
Was unterstützt uns auf dem Weg? Mir hilft es dann, mich immer wieder daran zu erinnern, wie ich angefangen habe. Ich wusste kaum etwas von Zen oder vom
Buddhismus. Es war gerade diese bestimmte Art des Nichtwissens, die mich auf den
Weg gebracht hat. Wenn ich Zweifel habe, wenn ich keine Lust mehr habe, Zen-
Meisterin zu sein, wende ich mich sofort diesem Nichtwissen zu.

Das sechste Bild: den Ochsen nach Hause reiten
Es hilft mir manchmal auch, mir ganz bewusst zu sagen: Ich lebe und arbeite
nicht nur für mich selbst. Mein Leben sollte zum Wohl aller Lebewesen sein.
Es unterstützt mich, immer wieder Abschnitte der Lehrreden des Buddha zu
lesen.
Es hilft mir, mir selbst immer wieder liebevoll zu sagen: keine Wahl, tu es ein-
fach.
Hilfreich ist für mich auch, nicht mehr in Begriffen von gut und schlecht zu
denken. Jeder Schritt auf dem Weg ist wichtig, wie immer er auch ist.
Antonio Machado sagt das so wunderbar in seinem Gedicht:
Wanderer, deine Fußspuren sind der Weg, und weiter nichts.
Wanderer, es gibt keinen Weg, der Weg entsteht beim Gehen,
beim Gehen entsteht der Weg, und im Blick zurück
sieht man den Pfad, den man nie wieder betreten wird.
Wanderer, es gibt keinen Weg, nur das Kielwasser im Meer.
Es hilft mir, angesichts eines Problems keine Entscheidung oder Wahl zu treffen,
solange meine Zweifel da sind. Sie sind manchmal ein Hinweis darauf, dass ich noch
mehr Informationen brauche. In unserer schnelllebigen Zeit, ist es wichtig, sich Zeit zu nehmen.

Das neunte Bild: zurück zur Quelle
Ich gehe jetzt seit 33 Jahren den Zen-Weg, und ich werde ihn hoffentlich noch
viele Jahre weitergehen. Manchmal werde ich gefragt, ob ich meine damalige Ent-
scheidung, diesen Weg zu gehen und alles dafür aufzugeben, nie bedauert hätte.
Natürlich habe ich öfter Zweifel gehabt. Glücklicherweise war immer wieder die
Kraft da, aus meinem Herzen heraus zu sagen: Ich weiß es nicht, aber für mich ist
es der beste Weg.
Meist fühle ich mich heute wie eine Königin! Immer wieder unglaublich berei-
chert von den Begegnungen mit vielen Menschen auf dem Weg, an einem wunderbaren Ort wohnend, verheiratet mit einer wunderbaren Frau, die mich schon seit
zwanzig Jahren bei meiner Dharma-Arbeit unterstützt. Gleichzeitig bin ich arm, ich
habe letztlich überhaupt nichts – und das ist gut so.
Was ist wahre Armut? Wenn du Tee trinkst, bist du dann ein Mann oder eine Frau?
Was ist eigentlich das Selbst, das du suchst?
QUELLEN
Text: “Anoja sucht das Selbst” aus “Das verborgene Licht” , herausgegeben von Florence Caplow und Susan Moon, aus dem Englischen übersetzt von Karin Petersen, Edition Steinrich,dt. Ausgabe 2016
Abbildungen: Anoja is op zoek naar het zelf, ZenLeven Herbst 2019