Zen-Erkenntnis in vier Zeilen
In dem siebentägigen Dai-Sesshin vom 18.–25. Juli 2022 sprach Jiun Roshi über das Plattform-Sutra von Hui Neng (638–713). Dem Sutra zufolge arbeitete Hui Neng als Küchenhilfe im Kloster des fünften Zen-Patriarchen. Als dieser einen Nachfolger bestimmen wollte, schrieb er einen Wettbewerb aus: Alle Mönche konnten ein Gatha, ein vierzeiliges Gedicht, einsenden, in dem sie ihre Erkenntnis darlegten. Auf der Grundlage der Gathas würde er seinen Nachfolger wählen. Die Mönche trauten sich nicht. Sogar der oberste Mönch, der designierte Nachfolger, zweifelte an seiner Erkenntnis und beschloss daher, sein Gedicht anonym auf eine Mauer zu schreiben. Es lautete:
Der Körper ist der Baum der Erleuchtung,
der Geist wie der Ständer
eines blanken Spiegels;
Stunde um Stunde wische ihn sorgfältig ab,
lass keinen Staub sich darauf niedersetzen.
Als Hui Neng diese Zeilen zu hören bekam – er konnte selbst nicht lesen – ließ er ein eigenes Gedicht dahinter schreiben:
Erleuchtung ist kein Baum.
Der klare Spiegel hat keinen Ständer;
Im Ursprung gibt es nichts,
wo könnte sich da Staub ansammeln?
Aufgrund dieses Gedichtes wurde Hui Neng der sechste Patriarch.
Auf diese bekannte Zen-Erzählung nahm Jiun Roshi Bezug und bat alle Teilnehmer*innen, am Ende des Sesshins ebenfalls ein Gatha zu verfassen. Das haben alle gemacht.
Es war kein Wettbewerb. Diese Gathas könnt ihr als das gemeinsame Ergebnis von fünfzehn Menschen ansehen, die eine Woche lang intensiv miteinander meditierten. Die Verfasser*innen (in alphabetischer Reihenfolge): Agetsu, Daido, Gudrun Kowallik, Jacky Limvers, Jiun Roshi, Jörg Strebe, Kido, Kyogen, Lilian van der Vaart, Lisette Durenkamp, Pieter Kempers, Shinjin, Suigen Osho, Tenjo Osho, Yuko.
Die Gathas stehen nicht in derselben Reihenfolge wie die Namen.
Erdbeereis, Schokoladeneis,
jetzt sitzen sie zusammen
Und genießen,
Es gibt nichts zu begreifen.
Mmmmhhh
Atemzug auf Atemzug
Schritt auf Schritt
Wir sind unterwegs
Dorthin, wo wir schon sind
Wenn du den Weg suchst, wirst du den Weg nicht finden
Wenn du den Weg gefunden hast, wirst du den Weg nicht erkennen
Ohne Erkennen wird der Weg erscheinen
In voller Blüte küsst die Blume den Tau
Der Dharma ist eine Türöffnung
Auf offenem Feld und in einer Stadt.
Wer hindurchgeht, weiß nichts
Und handelt richtig.
Dieser Weg ist nichts Besonderes
Manchmal führt er nach links, manchmal führt er nach rechts,
Manchmal geht er bergauf, dann wieder bergab ins Tal.
Aber: Sei wachsam und immer ganz vorsichtig.
Der Kinhin-Baum weiß nichts von Zen,
Mit Blättern ist er nicht so licht wie ohne.
Wenn ich darunter stehe, ruft er mich beim Namen:
Shhhhhhhh…
Es gibt nichts außerhalb des Geistes
Kein Bein um darauf zu stehen
Klare Luft wechselt ab mit Wolken und Nebel
Warum soll ich weitersuchen?
Kein Ich, das das Ziel
Vergessen will
Die Zeit steht still
Der Weg vergessen
Ich bin kein Zen-Meister und kein Buddha
Was sucht ihr bei mir?
Was du suchst, hast du gar nicht verloren
Was du findest, ist nicht von dir.
Ich bin … verliebt
Ich bin eine Romanze
Ich bin ein Samen, der jedes Mal Wurzeln schlägt
Du findest mich in diesen Worten
In die Stille zurückgekehrt
Frau verschwunden, Dinge verschwunden
Da fährt ein schwarzes Auto vorbei
Und das Selbst zeigt sich reglos bei der Fahrt.
In der frühen Morgensonne
Gleiten Schatten
Über das wogende Gras
Was ist es, was sich da bewegt?
Erkenntnis ist ein unbeständiges Ding:
Wie gekommen,
so gegangen,
was bleibt?
Komm, komm durch das Tor
Es ist nicht weit, nicht einmal ein Schritt
Stelle wohl erst deinen Koffer ab
Dann ist es nur noch Tanz
Ganz direkt erleben, was dir gerade in den Sinn kommt
Sich stets wieder dorthin zurückbringen
Das wahre Selbst ist frei von Normierungen und Konditionierungen
Und schafft dadurch Raum, um weise das Gute zu tun.
(aus dem Niederländischen übersetzt von Doris Behrens)
Quelle: Zen-inzicht in vier regels, ZenLeven Herbst 2022