Ins Herz aller Dinge
Interview von Threes Voskuilen mit Myoko Suigen Osho
Möchtest Du etwas darüber sagen, was in deinem Leben wichtig war?
Ich wurde 1951 in eine Patchwork-Familie hineingeboren. Mein Vater war geschieden und bekam die beiden Kinder aus seiner ersten Ehe zugesprochen. Über eine Heiratsannonce lernte er meine Mutter kennen, und ich bin das jüngste von zwei Kindern aus dieser Ehe. Meistens herrschte zu Hause eine gedrückte Stimmung. Wir durften nicht darüber reden, dass mein Vater geschieden war, das war eine Schande und ein Geheimnis. Das älteste der beiden Kinder aus seiner ersten Ehe, ein Bruder, starb an Morbus Duchenne, als ich fünf Jahre alt war. Ich hatte und habe eine sehr starke Bindung an meine zehn Jahre ältere Halbschwester. Aber sie verließ schon früh mit Unstimmigkeiten das Haus.
Ich war sehr wissbegierig und konnte gut lernen. Mit vierzehn träumte ich vom Nobelpreis und mit achtzehn begann ich Chemie zu studieren. Ich habe Chemie gewählt, weil ich ins „Herz der Dinge“ schauen wollte. Es war eine schwierige Zeit, ich wohnte in Studentenbuden, war unsicher und unglücklich. Nach meinem Abschluss begann ich am Mathematischen Zentrum, einem Forschungsinstitut, zu arbeiten. In dieser Zeit hatte ich eine Beziehung zu einem Grafik-Designer. Er hat mir gezeigt, dass die Dinge auch eine Außenseite haben. Er hat mich Sehen gelehrt.
Dann wechselte ich an die Universität, wo ich Informatik unterrichtete. Inzwischen hatte ich eine Beziehung zu Arthur, mit dem ich zwei Söhne bekam. Meinem ältesten Sohn Misha, der jetzt 34 Jahre alt ist, geht es nicht gut. Er ist Autist und braucht viel Versorgung und Aufmerksamkeit. Obwohl Arthur und ich geschieden sind, läuft es gut zwischen uns und wir sorgen gemeinsam dafür, dass Mishas Lebenssituation so optimal wie möglich gestaltet wird. Es ist ein Glück, dass wir das als Eltern gemeinsam tun, denn es ist sehr kompliziert.
Irgendwann gab es einen großen Wendepunkt in deinem Leben, willst du etwas darüber erzählen?
Ja, inzwischen gab es immer etwas in mir, das sagte: da stimmt etwas nicht mit der Art und Weise, wie wir unser Leben leben. Ich habe mich oft gefragt: warum wissen wir Menschen nicht, was wir tun und welche Auswirkungen unser Tun hat? Nishkamo, eine sehr gute Freundin, ist für mich sehr wichtig gewesen. Sie war Sannyasin1 geworden und lieh mir ein Buch von Bhagwan. Als ich darin las, fügte sich auf einmal alles zusammen. Ich las über Erleuchtung, das Ego und Egolosigkeit und wusste: das ist es, was ich immer gefühlt habe.
Das war eine „paulinische Erfahrung“, die alles veränderte: von diesem Moment an war Spiritualität die Grundlage, von der aus ich leben wollte. Ich war eine kurze Zeit lang Sannyasin und in einer der Gruppen, in denen ich dort war, hatte ich eine tiefgreifende und verändernde Erfahrung. Für mich wurde deutlich, dass ich, dass wir ein Kanal für Liebe sind. Bis zu diesem Moment dachte ich, dass Liebe etwas ist, das man braucht, das man bekommen muss. In dieser Gruppe habe ich dann sehr direkt erfahren, dass Lieben nicht etwas ist, was man tut, sondern, dass du selbst eine Art Kondensationspunkt der Liebe bist.
Denkst du immer noch, dass Liebe ein Kondensationspunkt der Liebe ist?
Ja, das denke ich immer noch. Erst nach dieser Erfahrung habe ich mich getraut, Kinder zu bekommen. Dennoch trat auch die Entdeckungsreise der Spiritualität wieder in den Hintergrund. Als kurz nach Mishas Geburt mein Vater starb und ich erneut schwanger wurde, hatte ich jedoch das Bedürfnis, wieder zu meditieren. Ich suchte nach einer Möglichkeit und rief bei zwei Zentren an. Ob es nun Zufall war oder nicht, das erste Zentrum antwortete nicht, und das zweite war Tiltenberg. Dort habe ich ein erstes Zen-Wochenende mit Mimi Maréchal gemacht. Sie war sehr wichtig für die Einführung des Zen in den Niederlanden, da sie viele verschiedene Zen-Meister nach Tiltenberg eingeladen hat. Dieses Wochenende war hart und schmerzhaft, aber am Ende habe ich mich doch für ein Wochenende bei Prabhasa Dharma angemeldet. Während des letzten Zazen an jenem Wochenende fragte mich Prabhasa, ob es mir mit Zen Ernst sei, und ich sagte: “Ja, ich denke schon.“ Ich höre heute noch, was sie damals sagte: “ Das ist gut, denn Zen sollte man mit ganzem Herzen praktizieren oder gar nicht.“ Das war ein Schock für mich in dieser Situation. Es wurde mir wirklich klar, dass ich es nicht nur ein bisschen tun sollte – zumindest nicht, wenn ich die Egolosigkeit erfahren wollte, von der Bhagwan sprach. Ich begriff auch, dass nicht jeder auf diese Weise Zen praktizieren möchte. Manche Menschen haben zum Beispiel überhaupt keine Lust, Sesshins zu machen, und das ist in Ordnung.
Nach der Geburt meines zweiten Sohnes, Samir, war ich so beschäftigt, dass ich nicht weiter meditieren konnte, aber eineinhalb Jahre später erhielt ich eine Einladung zu Studientagen mit Prabhasa Dharma nach Tiltenberg. Diese Studientage waren eine Art Offenbarung für mich, und ich wusste dann, dass Prabhasa Dharma meine Lehrerin und Zen wirklich mein Weg war. Seit diesem Moment im Jahr 1990 habe ich Sesshins besucht.
Was hat dich so sicher gemacht, dass Prabhasa deine Lehrerin war?
Es war vor allem intuitiv, daher ist es schwer in Worte zu fassen. Es war ihre Ausstrahlung, sie war so klar und so ruhig, sie war aus einem Stück, jemand, die wirklich auf dem Boden stand. Sie sprach aus ihrer Erfahrung und es machte Sinn. Ich wusste, dass sie wusste, was ich wissen wollte.
Gab es danach jemals Zweifel über den Zen-Weg?
Nein, ich muss in diesem Leben Zen praktizieren. Wenn ich sterbe, muss ich mir zwei Fragen stellen: Habe ich mich gut um meine Kinder gekümmert und: habe ich genügend Zen praktiziert?
Natürlich gab es auch Zeiten, in denen ich weniger motiviert war. Ich habe lange mit demselben Koan gerungen und mich gefragt, ob ich nicht besser in Urlaub fahren sollte, anstatt ein Sesshin zu besuchen. Durch Gespräche mit Freunden aus der Sangha bin ich dann doch zu dem Sesshin gegangen, und es war ein großer Durchbruch für mich. Das bedeutet übrigens nicht viel, eine erste Erkenntnis. Prabhasa Dharma hat oft gesagt, dass das eigentliche Zen-Training erst danach beginnt. Es hört also nie auf. Ich kann damit mein ganzes Leben arbeiten.
2011 bist Du nach Noorder Poort gezogen und wurdest zur Unsui ordiniert. Möchtest du etwas über die Zeremonie der Ordination erzählen?
Es war ein besonderer Tag im Oktober, an den ich mich sehr gut erinnere. Ich saß in meinem Zimmer, mein Kopf war bereits bis auf eine Haarsträhne kahl rasiert. Es war eine angenehme Art von Spannung während ich meditierte. Das Abrasieren meiner Haare bedeutete mir viel. Als Mensch hast du alle möglichen Anhaftungen, und die Rasur der Haare ist ein Symbol dafür, diese Anhaftungen loszulassen. Dann, in einem Moment der Zeremonie wird auch die letzte Strähne abrasiert. Jiun Roshi fragt dann:“ Erlaubst du mir, das zu tun?“ Bei dieser Frage geht es um mehr als nur um ein Haarbüschel. Ich habe dabei gespürt, dass mein Ja in diesem Moment auch bedeutete: Ja, ich vertraue darauf, dass du mich mit Weisheit ausbilden wirst. Das war für mich das Wesentliche an der Zeremonie.
Nachdem die letzte Strähne abrasiert ist, verlässt du das Zendo und kommst wieder in deiner Unsui-Robe mit Kesa zurück ins Zendo, wo alle warten. Mir wurde dann der Name Myoko gegeben, der der zweite Name von Prabhasa Dharma ist. Das hat mich sehr gerührt und ich empfand ihn auch als Auftrag. Der Name bedeutet: Beautiful Brightness.
Warum wolltest du Unsui werden, was war deine Erwartung?
Dazu kann ich nur wenig sagen. Ich hatte das Gefühl, dass es getan werden musste. Jiun Roshi hat es einmal Berufung genannt, und das ist es. Im Jahr 2001 verbrachte ich drei Monate auf Noorder Poort um herauszufinden, ob ich die Unsui-Ausbildung wirklich machen wollte, und danach war es klar.
Dieses Training hat zwei Seiten.
Die eine Seite betrifft die Einsichten, die sich aus der Koan-Übung ergeben, die dich ständig auf das lenken, was außerhalb des kognitiven Wissens liegt. Das ist, einfach ausgedrückt, die Erfahrung, dass die Grenzen zwischen Ich und Anderen völlig künstlich ist; dass es keinen Unterschied zwischen Innen und Außen gibt.
Die andere Seite, die eigentlich schwieriger ist, ist der lebenslange Lernweg, und aus dieser Einsicht heraus zu leben. Das bedeutet, dass dein Handeln in jeder Situation aus dem heraus geschieht, was hoffentlich das Beste für die Gesamtsituation ist. Das ergibt eine andere Perspektive. Das heißt nicht, dass du dich selbst ständig zurücknehmen musst, denn du bist ja auch Teil der Situation. Aber alles wird anders, wenn du die Situation als Ganzes betrachtest und nicht aus dem Blickwinkel: ‚Was bedeutet es für mich?‘.
Während des Unsui-Trainings wird dir auch auf verschiedene Art und Weise geholfen, diesen Lernweg zu gehen. Zum Beispiel: Tu das, worum du gebeten wirst. Es spielt keine Rolle, ob du Lust dazu hast oder nicht, aber man wird nichts von dir verlangen, was du nicht tun kannst. Natürlich bist du letztendlich immer für dein Handeln selbst verantwortlich, aber ich bin noch nie zu etwas aufgefordert worden, was ich nicht akzeptabel fand. Sehr wichtig ist auch, dass du in Harmonie mit deinen Mitbewohnern lebst, die du dir nicht selbst ausgesucht hast.
Wie erlebtest du während des Trainings die Höhen und Tiefen, die es ja zweifellos auch gab?
Im Laufe der Zeit war ich natürlich auch mal demotiviert und erwog wegzugehen. Es waren aber immer zwei Dinge, die mich daran gehindert haben. Eins war mein Name Myoko und das andere war eine Erfahrung, die Jiun Roshi in ihrem eigenen Unsui-Training bei Prabhasa Dharma gemacht hatte. Das war ein sehr hartes Training. Oft wurde ihr das Wort abgeschnitten oder ihre Bemerkungen wurden ignoriert, bis sie einmal äußerst frustriert fragte:“ Warum darf ich nie etwas sagen?“ Prabhasa antwortete daraufhin:“ Du kannst mir alles sagen, solange es vom richtigen Fleck kommt.“ Das habe ich sehr gut verstanden, und es hat sich auch bei mir sehr gut ausgewirkt. Wenn ich also keine Lust auf das Training hatte, fragte ich mich, ob das von der richtigen Stelle kam… Und die Antwort war fast immer nein, denn mein ‚Ich‘ ist nicht der richtige Ort. In den ersten Jahren der Ausbildung habe ich viel Hausarbeit gemacht. Mit der Zeit hat sich das verschoben. 2013 begann die Lehrerausbildung, und drei Jahre später folgte die Ordination zur Zen-Lehrerin. Nach und nach habe ich immer häufiger Zen-Begleitung gemacht, wie z.B. das Neujahrs-Retreat, die ZenLeven-Thuis-Trajekte und neuerdings leite ich jedes Jahr ein Go-Sesshin.
Bist du jetzt, da du schon so lange auf Noorder Poort lebst, weit weg von der Gesellschaft?
Nein, das finde ich nicht. Die Gesellschaft kommt ständig zu uns. Für die Gäste, die hierherkommen, ist es sehr wichtig, dass es Noorder Poort gibt. Und umgekehrt ist es für mich auch wichtig, dass Leute von außerhalb hierherkommen, sonst würde ich mich wahrscheinlich nutzlos finden.
Du bist Lehrerin und Osho, möchtest du darüber erzählen?
Lehrerin und Osho zu sein ist eine Erweiterung des jeweils anderen. Ich habe mein ganzes Leben lang unterrichtet. Aber eine Zen-Lehrerin zu sein hat für mich eine besondere Dimension, weil die Zen-Tradition so reich und tief ist. Osho bedeutet Hüter des Friedens, und wie Jiun Roshi sagt, geht es hier in erster Linie um den Frieden in mir selbst.
Meine Verbundenheit mit dieser Sangha ist im Laufe der Jahre unverzichtbar geworden. Ich finde es wichtig, die Tradition als Lehrerin zu bewahren und weiterzugeben. Es geht nicht so sehr um die Form, die Roben, das Rakusu und was wir sonst noch tragen. Obwohl die Form auch verbindend ist und die Rituale eine gewisse Intimität mit sich bringen. Aber das Wesentliche liegt in dem, wofür es keine Worte gibt, in dem, worüber du eigentlich nicht sprechen kannst.
Meditation, Achtsamkeit ist in unserer Gesellschaft fast zum Mainstream geworden, weitgehend losgelöst von spirituellen Aspekten, und es ist großartig, dass dies für viele Menschen so zugänglich geworden ist. Aber die spirituelle, mystische Dimension, die du im Zen findest, ist ein Reichtum, den du im Mainstream der Achtsamkeit nicht so leicht finden wirst. Als Lehrerin versuche ich zu vermitteln, dass die Welt, vom Absoluten aus gesehen, ein einziger großer Tanz ist, in dem es kein Leiden gibt, während es im Alltag durchaus Leiden gibt. Wenn man weiß, dass es beide Perspektiven gibt, dann wirkt sich das darauf aus, wie du im Leben stehst.
Welcher buddhistische Begriff ist für dich wichtig?
Das ist das Leben nach den Brahmaviharas. Wörtlich übersetzt: die göttlichen Verweilplätze. Das sind vier Geisteszustände, die, wenn du völlig klar bist, spontan entstehen: unendliche Güte, unendliches Mitgefühl, unendliche Mitfreude, und unerschütterliche Gleichmut.
(Übersetzung aus dem Niederländischen von Marie Louise Linder)
Quelle: In het hart van alle dingen, ZenLeven Frühjahr 2022