Die Grundregeln des Zen
Teisho von Jiun Roshi
Dieser Artikel geht auf einem Vortrag zurück, den Jiun Roshi im Dezember 2021 während des Rohatsu gehalten hat, jenem ganz intensiven Sesshin, welches der Überlieferung nach am Jahrestag von Buddhas Erleuchtung überall auf der Welt um den 8. Dezember herum stattfindet. In diesem Vortrag nimmt sie Bezug auf eine Anzahl von klassischen Zen-Texten, die häufig japanische Titel tragen. Der Dentoroku (übertragen von de Lamp), der Hegikanroku (die Erzählung vom blauen Felsen) und der Mumonkan (das torlose Tor) wurden zwischen dem 11. Und 13. Jahrhundert geschrieben und beinhalten Erzählungen, die als Koans benutzt werden, d.h. jener Meditationsübung in Form einer Frage, deren Antwort nicht durch Wissen oder Begründungen entsteht. Das Kegon-Sutra ist ursprünglich auf Sanskrit verfasst und wird Buddha zugeschrieben, entstand jedoch erst lange nach dessen Tod.
Guten Morgen!
Buddhas Erleuchtung war für Zen selbstverständlich von allergrößter Bedeutung. Ohne Buddhas Erleuchtung hätte es keinen Buddhismus gegeben. Dieser Ausgangspunkt hat natürlich Einfluss auf die Übung, auf das, was wir den Zen-Weg nennen. Vom Entstehen des Zen an wurde bis auf den heutigen Tag stets darüber diskutiert, was wichtiger ist: die Erfahrung dessen, was wir die wahre Natur nennen oder das Sutren-Studium. So wie auch bei vielen anderen Arten von Fragen denke ich dann: frage nicht entweder oder, sondern ziehe auch die Möglichkeit von sowohl als auch in Betracht. Einsicht und Studium, beides ist wichtig.
Die vier sogenannten Grundregeln des Zen, die im 7. Jahrhundert formuliert wurden, sind sehr hilfreich auf dem Zen-Weg:
1. Übertragung jenseits der Schriften
2. Sich nicht auf Buchstaben oder Worte stützen
3. Direkt auf den eigenen Geist verweisen
4. Die Buddhaschaft verwirklichen, indem die eigene wahre Natur geschaut wird
Übertragung jenseits der Schriften
Es gibt nicht nur viele, viele Bücher über Buddhismus, sondern nahezu täglich kommen Bücher über Zen hinzu. Viele der Zen-Bücher, die derzeit erscheinen, zeichnen ein stark vereinfachtes Bild von Zen, teils unter dem Einfluss der Mindfulness-Bewegung, teils aus dem Bedürfnis heraus, der Leserschaft mit einer für den Verstand erfassbaren Auslegung zu helfen.
Glücklicherweise gibt es auch Bücher, die das Gefühl vermitteln, von jemandem geschrieben worden zu sein, der die wahre Natur auch wirklich realisiert hat. In diesen Büchern wird die Lehre nicht nur erklärt, sondern wir werden auch ermutigt, selbst zu entdecken und zu erfahren, was sich mit Worten nicht ausdrücken lässt.
Im Dentoroku (übertragen von de Lamp) findet sich folgender Dialog:
Eine andere Geschichte, diesmal aus dem Hegikanroku:
Keine Erklärung, keine Worte, kein Verstehen, und dennoch hatte Meister Fudaishi die höchste Wirklichkeit wiedergegeben. In der Zen-Übung wird uns das immer wieder gezeigt: dem wahrhaften Begreifen gegenüber entfallen alle gedanklichen Konzepte, so gut sie auch sein mögen, sie landen wie Schneeflocken im Feuer.
Das ist genauso, wenn wir mit einem Koan üben. Deine Antwort soll kein Verstehen zeigen, keine Erklärung sein, kein Ding, das du mir gibst. Deine Antwort soll eine Übertragung jenseits der Worte sein.
Deshalb lautet die zweite Grundregel von Zen: Sich nicht auf Buchstaben oder Worte stützen.
Shibayama Roshi (1894–1974) schrieb ein Buch mit dem Titel: A flower does not talk. Eine Blume sagt nicht: „Ich bin eine Blume und ich blühe.“ Ein Vogel sagt nicht: „Ich singe sehr schön!“ Aber wir Menschen verwechseln immer wieder, was wir erfahren haben mit dessen Erklärung durch Worte. Wir neigen dazu zu denken, dass die Erfahrung selbst in den Worten enthalten ist.
Noch ein schönes Beispiel aus dem Dentoroku:
Ihr könnt euch wahrscheinlich vorstellen, dass mir allmählich ziemlich heiß hier wird. Was mache ich bloß auf diesem Stuhl?
Meister Sekito wusste genau, was seine Schüler von ihm wollten. Und wenn er gewollt hätte, hätte er zweifellos einen wunderbaren Vortrag über die buddhistische Lehre, über die Wirklichkeit und über die Buddha-Natur halten können. Aber er war davon überzeugt, dass ein solcher Vortrag keinen Nutzen hatte.
Es kam auch ein Mönch mit einer Frage zu Meister Tokusan. Er machte eine tiefe Verbeugung vor dem Meister, bevor er seine Frage stellte. Aber noch bevor er mit seiner Verbeugung fertig war, gab Tokusan ihm einen Schlag mit dem Stock. Der Mönch verstand das nicht und sprach: „Ich habe mich nur vor Ihnen verbeugt und noch gar nichts gefragt. Warum schlugen Sie mich?“ Tokusan antwortete: „Es hat keinen Sinn zu warten, bis du anfängst du reden.“
Wir machen weiter mit folgender Grundregel:
Direkt auf den eigenen Geist verweisen bedeutet, dass wir, wenn wir die Wahrheit erfahren wollen, einen Weg aus dem dualistischen, menschlichen Denken finden müssen. Der Weg solchen Denkens ist wie eine Sackgasse: er führt nirgendwohin.
Mit dem eigenen Geist ist der Buddha-Geist oder der absolute Geist gemeint. Der vollkommen grenzenlose Geist, der nicht ständig durch Gedanken und Gefühle eingeschränkt wird. Direkt auf den Buddha-Geist zu verweisen, bedeutet, eins sein mit dem, was ist, so dass nichts dazwischensteht: ganz unmittelbar, ohne etwas davor zu setzen.
Die Buddhaschaft verwirklichen, indem die eigene, wahre Natur geschaut wird
Wenn es denn ein Ziel gibt im Zen, dann kann es folgendes sein: Die Buddhaschaft verwirklichen, indem die eigene, wahre Natur geschaut wird.
Vorhin ging es um unseren eigenen Geist, nun aber geht es um unsere eigene Natur. Wenn wir das Wort „eigen“ durch „Buddha“ ersetzen, dann wird deutlich: Buddha-Geist und Buddha-Natur sind untrennbar miteinander verbunden.
Die Buddha-Natur ist die Wurzel unseres Seins, nichts, was wir über die Jahre entwickeln, nichts, was wir erreichen können. Es ist die absolute Natur. In der Zen-Übung geht es darum, die eigene Natur direkt zu schauen. Wir sagen also nicht, dass du die wahre Natur verstehen musst, und statt schauen sage ich meistens realisieren.
Die eigene, wahre Natur sehen wird im Japanischen kensho genannt, und ein kensho wird als spirituelle Erfahrung angesehen. Diese vierte Grundregel sagt uns also, dass wir die Buddhaschaft durch bestimmte spirituelle Erfahrungen verwirklichen können. Das Wort Buddha hat hier die ursprüngliche Bedeutung im Sanskrit: erleuchtet oder erwacht. Es verweist also nicht auf ein allmächtiges, absolutes Sein außerhalb von uns selbst. Es verweist ganz und gar auf unser Mensch-Sein.
Wenn wir nun die letzten beiden Grundregeln zusammennehmen, sehen wir, was Zen uns lehrt:
1. den dualistischen Unterschied unseres Bewusstseins zu überwinden
2. wirklich und direkt im Buddha-Geist eins zu sein, mit dem, was ist, und
3. auf diese Weise unsere wahre Natur zu verwirklichen.
Wir öffnen unsere spirituellen Augen für eine neue Sicht und erwachen als neues Selbst. Wenn Prabhasa Dharma Roshi sagte: „Stirb jetzt, lebe später!“ verwies sie darauf. Das Selbst, das gebunden ist an die Idee von „Ich-und-Andere“ stirbt, und dann wird ein neues, allumfassendes Selbst geboren, immer wieder, von Moment zu Moment.
Das bedeutet natürlich nicht, dass wir im Zen dualistisches Denken und Verstehen vollkommen ablehnen. Aber im Zen ist es nicht das Wichtigste, unseren Intellekt zu entwickeln und noch mehr zu verstehen, sondern es geht darum zu sehen, was davor ist. Was ist da, bevor wir ja oder nein sagen, was ist da, bevor wir es groß oder klein nennen?
Daher sagte Meister Sosan: Wenn du nicht wählst, wenn du Unterscheidungen nicht pflegst, dann ist der Weg des Buddha überhaupt nicht schwierig, dann ist das Realisieren der Buddha-Natur überhaupt nicht schwierig. Diese Buddha-Natur war niemals von uns getrennt, sie ist immer da. Die Erleuchtung ist Teil unseres Seins, und darum sind alle Menschen von ihrer Anlage her Buddha. Im Diamant-Sutra steht: Ich bin erleuchtet, und das bin ich immer gewesen, gleichzeitig mit dem Beginn des Universums. Kein Unterscheiden zu pflegen, bedeutet, so vollkommen still zu werden, dass nichts mehr sich bewegt, dass du unmittelbar erfährst, ohne dass eine Dualität von Subjekt und Objekt entsteht.
Die Koan-Übung hilft uns, die Nicht-Dualität zu verwirklichen.
Darauf verweist z.B. die Nummer 11 des Mumonkan:
Der Kommentar des Meister Mumon lautet:
Wenn du dazu ein Schlüsselwort sagen kannst, dann wirst du sehen, dass Joshu spontan sagt, was er sagen will, und dass er vollkommen frei ist, den einen zu loben und den anderen zu tadeln.
Übrigens weißt du, dass es genau die beiden Einsiedler waren, die Joshus wahre Natur sahen?
Wenn du sagst, dass der eine Einsiedler besser als der andere war, dann hast du noch nicht das wahre Zen-Auge. Aber auch wenn du sagst, dass es keinen Unterschied zwischen den beiden gibt, hast du immer noch nicht das wahre Zen-Auge.
Nur dann, wenn wir uns befreit haben von solchen Unterschieden wie ja und nein, von Buddhas und Nicht-Buddhas, nur dann sind wir imstande, um dieses ja und nein, sehen und nicht-sehen in Freiheit zu gebrauchen.
In Freiheit tadelte Meister Joshu den einen Einsiedler und lobte den anderen. Du brauchst das Zen-Auge, um zu sehen, dass Meister Joshu in seinem Ablehnen und Loben völlig frei von jeglicher Dualität war.
Übe fleißig, die Zeit geht schnell vorbei!
(aus dem Niederländischen übersetzt von Doris Behrens)
Quelle: De grondregels van zen, ZenLeven Frühjahr 2022