Anneke Roozendaal praktiziert seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr Kalligrafie. Ihre großen Arbeiten auf Reispapier strahlen Kraft und Schönheit aus.
Auch ist Anneke auf Noorder Poort ein bekanntes Gesicht. Sie übt seit dem Bestehen von Noorder Poort Zen und hat jahrelang die Arbeitswochen dort begleitet.
Ardan Timmer war immer schon neugierig zu erfahren, wie ihre Arbeiten entstehen. Dieses Interview gab ihm Gelegenheit, nun mit der Frau, die hinter diesen imposanten Schwarz-Weiß-Kunstwerken steht, ins Gespräch zu kommen. Er besuchte sie in ihrem Haus in Utrecht und führte mit ihr in ihrem Atelier ein interessantes Gespräch über ihre Kalligrafie.

Round and perfekt, like vast space / Nothing lacking, nothing in excess (140 x 70 cm)
Die Selbstlosigkeit eines Kreises
Anneke: Mein Weg zum Kalligraphieren begann, als ich zwanzig war, mit der Einübung verschiedener westlicher Stile. Auch war ich Teil einer Gruppe, die philosophische Texte von Plato und Ficino kalligraphierte. In den letzten zwanzig Jahren kalligraphiere ich im japanischen und chinesischen Stil. Den Unterricht und die Inspiration bekam ich von einem japanischen Lehrer und einem chinesischen Meister. Zur gleichen Zeit habe ich angefangen, Zen zu üben.
Ich kalligraphiere mit dem Pinsel in unterschiedlichen Stilen, von der Stempelschrift, klerikaler Schrift und Kanji bis zu Semi-Kursiv und Kursiv, in ziemlich kleiner Schrift, wie z.B. das Herz-Sutra und andere buddhistische Texte, bis hin zu ganz großen Arbeiten im expressiven Stil. Ich mag das große Arbeiten sehr – mit nur einem Buchstaben – aber auch das Sutra-Schreiben.

To open the heart (110x60cm)
Ardan: Auf deiner Website wird sehr schön beschrieben, wie du arbeitest. Als ich die Texte las, fiel mir die Verbindung zum Zen auf, und dann insbesondere das Üben mit einem Koan. Kannst du sagen, dass der Moment, in dem du den Pinsel aufs Papier setzt, sehr dem Moment gleichkommt, in dem du im Sanzen-Raum sitzt und eine Antwort auf dein Koan gibst?
Anneke: Ja, sicher, die Verbindung ist offensichtlich. Es ist das Eins-Werden mit dem Pinsel. Und dann den Pinsel vergessen. Sobald du anfängst zu denken: ich muss etwas machen, ich muss etwas niederschreiben, dann ist es weg. Der Moment, in dem der Pinsel das Papier berührt: das ist es. Und in dem Moment, wo du denkst: „Das ist es“, dann ist es das nicht. Kalligraphie ist für mich nicht nur das Eins-Werden mit der Arbeit, mit dem Tun, sondern auch das wieder Vergessen. Genau wie die Zen-Übung und das Sitzen mit einem Koan. Dass du das „Machen“ hinter dir lässt — und stets aufs Neue vom Nullpunkt aus die Stille beginnen kannst.

Hondert vormen van’Ju-Longevity‘ (35x50)
Ardan: Hast du eine Art Ritual, bevor du an die Arbeit gehst?
Anneke: Ich bereite mich insofern vor, als ich aus der Stille heraus schaffen kann. Ich schaue zuerst in aller Ruhe auf das weiße Reispapier. Ich sitze eine Weile still und mache Qigong-Übungen. Ich konzentriere mich bewusst auf mein Atemholen. Und aus der Stille heraus beginne ich.
Die Kalligraphie ist für mich eine tägliche Beschäftigung. Ich kalligraphiere gern Sutras oder Gedichte; dabei werde ich ruhig, und das tu ich auch immer, bevor ich eine größere Arbeit angehe.

The way to happyness (42x30)
Ardan: Betrachtest du Kalligraphie als Ausdruck? Als etwas, was du zum Ausdruck bringst?
Anneke: Der Ausdruck sitzt in der Kraft, die aus dem Chi kommt, die Energie, die aus der Stille entsteht, vertrauend auf die Kenntnis und Geschicklichkeit, die ich inzwischen gewonnen habe. Ich will Emotion und Schönheit zum Ausdruck bringen. Es geht darum, dass ich aus dem Nichts gestalten kann. Aus dem Nicht-Denken. Ich drücke die Stille aus, die in mir ist. Dann kommt auch das Chi hervor. Für mich ist das der Maßstab: Zeigt meine Arbeit Schönheit und Emotion? Ist das Chi spürbar in der Arbeit? …oder nicht?
Genau wie im Zen weiß ich, dass du dich eigentlich nicht vorbereiten kannst, dass da nichts ist, was du zustande bringst.
Kalligraphie ist ein Prozess. Es ist kein Ziel an sich. Und ich trete stets wieder aufs Neue in den Prozess ein. Das Chi wird frei, sodass ich in dem verschwinden kann, was ich tu, der Ausdruck entsteht. In dem Moment, in dem ich die Kalligraphie mache, ist sie schon weg. Es ist das ultimative Loslassen, keine Erwartungen daran haben, was ich gemacht habe. Wenn ich den Pinsel aufs Papier setze, ist das der Moment, in den ich mich voll hineinbegebe und vollständig in dem einen Pinselstrich verschwunden bin. Und dann wird mir klar: letztendlich ist da kein Pinsel, kein Papier, keine Tusche. Und auch keine Anneke….

Mu (130 x 65 cm)
Annekes Arbeiten hängen zurzeit auf Noorder Poort. Ihr könnt auch ihr Werk auf www.annekeroozendaal.nl betrachten.
(aus dem Niederländischen übersetzt von Marie Louise Linder)
Quelle: De zelfloosheid van een cirkel, ZenLeven Herbst 2021