Maurits Hogo Dienske (1943) praktiziert Zen seit 1980. Er studierte bei Prabhasa Dharma zenji, sie ernannte ihn 1999 zum Zen-Lehrer am International Zen Institute. 2015 veröffentlichte er das Buch „Schweigen über Stille. Sprechen über Zen“ (ISBN-10: 9048442028, ISBN-13: 978–9048442027) ‑ein sehr lesenswertes Buch, worin er in deutlicher Sprache die Kernbegriffe der Zenübung beschreibt. Wir haben uns entschieden, ein Stück aus seinem Buch hier zu veröffentlichen (Hinweis zur Übersetzung: Im Original ist das Buch auf Niederländisch erschienen. Das hier wiedergegebene Kapitel Nicht-Selbst wurde aus dem Niederländischen übersetzt, als die deutsche Fassung des Buches noch nicht vorlag. Die Übersetzung des Kapitels im Buch ist nicht identisch mit der hier vorliegenden Übersetzung.). Der ausgewählte Teil handelt vom Nicht-Selbst.
Nicht-Selbst
Du kannst nicht ohne weiteres sagen: „Es existiert ein Ich.” Du kannst auch nicht ohne weiteres sagen: „Es existiert kein Ich.” Das ist seltsam. Das Nicht-Existieren ist die Verneinung des Existierens: Wenn also die Aussage „Es gibt ein Ich” unwahr ist, sollte man erwarten, dass die Aussage, „Es gibt kein Ich” automatisch wahr ist. Doch so ist es nicht. Bei Pardoxa musst du immer weiter schauen als nur nach den Worten allein. Die Begriffe Existieren und Nicht-Existieren formen sehr wohl einen Widerspruch, aber die Argumentationen, die sich dahinter verbergen, widersprechen sich nicht. Sie werden nur in unterschiedlichen Kontexten verwendet.
Die Lehre des Buddha wird traditionell unterteilt in Weisheit, Ethik und Meditation. Es ist eine verkürzte Wiedergabe des achtfachen Pfades. Weisheit umfasst Einsicht und innere Haltung, Ethik umfasst das Sprechen, Handeln und die Lebensführung, Meditation umfasst Einsatz, Achtsamkeitsentwicklung und Konzentration. Das sind drei Kontexte, und in jedem von ihnen wird der Begriff „Ich“ auf eine andere Weise besprochen.
Ich erinnere daran, dass das Wort „Ich“ drei Hauptbedeutungen hat: die Beschreibung aller Geschichten, die wir über uns selbst erzählen, die Bezeichnung aller Konditionierungen, denen wir verhaftet sind und die Beschreibung unserer Anwesenheit im Kontakt mit der Umgebung.
Meditation
In Zazen beschäftigst du dich ausschliesslich mit der direkten Erfahrung und dem abhängigen Entstehen. Du fühlst körperliche Wahrnehmungen, aber nicht „den Körper“. Du nimmst Gedanken wahr, aber nicht „den Verstand.“ Du setzt eine Begierde in Taten um, aber „eine Konditionierung“ bleibt eine Abstraktion.
Du lässt alle Geschichten hinter dir zurück (das ist schwierig, aber darum geht es hier nicht). Dieser Teil des Ich bleibt also vorübergehend außerhalb der Betrachtung. Es ist nicht das Bestreben, seine Existenz zu leugnen, sondern seinen Ursprung zu untersuchen. Sind es nur Geschichten, oder gibt es in der direkten Erfahrung etwas zu entdecken wovon sie handeln? Meiner Meinung nach ist so etwas in den fünf Skandha’s nicht zu finden. Die Geschichten spielen sich ausschließlich auf verbaler Ebene ab. Damit ist nicht gesagt, dass sie unwichtig sind, denn unser gesamtes soziales Leben beruht auf diesen Geschichten. Es ist nur gesagt, dass es keinen Grund gibt, uns krampfhaft an diesen Geschichten festzuklammern und ihren Inhalt um jeden Preis zu verteidigen.
Du setzt keine deiner Konditionierungen in Taten um (auch das ist schwierig). Du reagierst nicht mit Begierde oder Abneigung sondern schaust einfach was dann passiert. Also auch dieser Teil des Ich bleibt zeitweise ausserhalb der Betrachtung, nicht um seine Existenz zu leugnen, denn nach Abschluss des Zazen kommt er meist zurück, sondern um die Anhaftung an derartige Reaktionsmuster abzuschwächen.
Die Aufmerksamkeit des Ich ist auf den Kontakt mit der Umgebung gerichtet. Dieser Teil des Ich ist zwar eine direkte Erfahrung. Aber damit ist nicht gesagt, dass er existiert. Im Gegenteil, es wird deutlich, dass er sich dauernd verändert und dass du ihm keine konstante Identität zuschreiben kannst.
Ethik
Meditation ist Nichts-Tun, Ethik ist Tun. Meditation findet außerhalb der sozialen Umgebung statt, Ethik mitten darin. Meditation wird als absolut bezeichnet, weil das Ich nicht gegenüber etwas anderem steht, Ethik wird als relativ bezeichnet, weil das Ich immer gegenüber einem Anderen steht. Meditation kennt keine Bewertungen, Ethik funktioniert nicht ohne Bewertung. In der Meditation verwendest du das Wort „Ich“ nicht. In der Ethik muss man sagen können: „Ich bin mir bewusst, dass ich dir Schmerzen zugefügt habe und das tut mir leid.”
Alle Geschichten spielen hier eine große Rolle. Dieser Teil des Ich ist konkret anwesend. Die Geschichten handeln nur nicht von einer geheimnisvollen Instanz innerhalb der fünf Skandha’s, sondern von dem einen sichtbaren Menschen, der mit dem anderen sichtbaren Menschen spricht. Sie beruhen nicht auf einer absoluten Wahrheit, sondern wir beurteilen sie nach ihrer Ehrlichkeit und Kontrollierbarkeit. Sie besitzen keine unveränderliche Identität, denn wir können sie unter dem Einfluss neuer Einsichten verändern. Alle Konditionierungen spielen eine große Rolle. Auch dieser Teil des Ich ist konkret anwesend. Sie beruhen nur nicht auf einem feststehenden Charakter, sondern wiederholen sich unter dem Einfluss einer Begierde oder einer Abneigung, die du momentan fühlst, doch was du tust, kannst du auch anders tun. Du musst ihre Anwesenheit akzeptieren, dem entgehst du nicht, aber du musst sie auch beurteilen und entscheiden, wie du sie in Taten umsetzt, auf Grund des Vorsatzes so wenig wie möglich Leiden zu verursachen. Und du musst akzeptieren, dass dieser Vorsatz noch wenig entwickelt ist und dass die Macht der Gewohnheit oft stärker ist.
Die Achtsamkeit ist auf deinen Kontakt mit der Umgebung gerichtet, genau wie bei der Meditation, aber jetzt umfasst sie alle Wesen, die von dieser Situation betroffen werden. Deine direkte Erfahrung besteht aus den Worten, die du hörst, der Körpersprache, die du siehst und daraus musst du versuchen abzuleiten, was dein Gesprächspartner fühlt. Du hast Erinnerungen an die Art auf die er früher reagierte und daraus musst du versuchen herzuleiten, was seine Bedürfnisse in diesem Augenblick sind. Dieser Teil des Ich kann nicht allein aus direkter Erfahrung bestehen, sondern ist vermischt mit Gedanken über andere Wesen.
Weisheit
Dieser Kontext besteht zum einen Teil aus der Kenntnis des Buddhismus. Zum Beispiel aus der Art und Weise, wie die fünf Skandha’s und das abhängige Entstehen uns lehren, wie man Leiden vermeiden kann; und teils aus der inneren Haltung, die sich vornimmt, in Zukunft, so wenig wie möglich Leiden zu verursachen und ebenfalls so viel Leiden wie möglich zu lindern.
Die Lehre des Nicht-Selbst gehört zur Weisheit. Aus dem oben Gesagten folgt, dass es nicht darum geht, ob das Ich wirklich existiert oder nicht. Existieren und Nicht-Existieren sind statische Begriffe, die das Bild einer unveränderlichen Anwesenheit oder Abwesenheit hervorrufen. Worum es stattdessen geht, ist der Einfluss, den die drei Hauptbestandteile des Ich ausüben. Auf der einen Seite ist dieser Einfluss in der direkten Erfahrung spürbar, denn du kannst zum Beispiel den unangenehmen Eindruck, den jemand auf dich macht, fühlen. Auf der anderen Seite beruht dieser Einfluss nicht auf einer unveränderlichen Identität, denn wenn du anders auf diesen Eindruck reagierst, kannst du den Ereignissen eine heilsame Wendung geben.
Statt des Begriffes existieren solltest du besser den Begriff wirklich benutzen. Eine Erscheinung ist wirklich insofern sie eine wahrnehmbare Auswirkung hat, die in der direkten Umgebung fühlbar ist und durch abhängiges Entstehen beschrieben werden kann. Bist du zum Beispiel davon überzeugt, dass jemand dir etwas übel nimmt, dann kann diese Überzeugung falsch sein, derweil sie schon wirklich ist, denn sie beeinflusst die Art in der du mit dieser Person umgehst. Wirkliche Erscheinungen sind vergänglich, denn sie kommen und gehen durch abhängiges Entstehen und sie werden sich verändern, wenn die Umstände sich ändern. Wenn du einsiehst, dass du dich irrst und dass diese Person dir gar nichts übel nimmt, verändert sich deine Haltung. Wirkliche Erscheinungen beruhen also nicht auf einer unveränderlichen Identität.

Nikolai Makarov, Museum der Stille in Berlijn
Du kannst noch einen Schritt weiter gehen. Die Wirklichkeit besteht in erster Linie aus vergänglichen Ereignissen die nach dem Muster des abhängigen Entstehens verlaufen. Ihr Einfluss überschreitet mühelos die Grenzen zwischen Ich und dem Anderen. Du hörst zum Beispiel die Worte eines Anderen und sie berühren dich. Ist dein Bewusstsein offen, verschwimmen die Grenzen. Genau darum ist das abhängige Werden ein Grundbegriff. Wir sind daran gewöhnt von dem Begriff des Individuums auszugehen, als ob es etwas Selbstverständliches wäre. Aber der weitaus konkreteste Teil unseres Ich ist die Anwesenheit im Kontakt und dies verändert sich fortlaufend unter Einflüssen, die sich nicht um die Grenzen des Individuums kümmern. Nicht Individuum ist also ein Grundbegriff, sondern das abhängige Entstehen. Daran musst du dich gewöhnen und wahrscheinlich musst du kurz schlucken, weil du Angst hast, dass man dir etwas Wesentliches wegnimmt, aber tatsächlich schenkt es dir eine befreiende Offenheit.
Schluss
Du kannst nicht ohne weiteres sagen: “Es existiert ein Ich.” Existieren bedeutet hier: statisch sein. Das Ich ist nicht statisch, weil seine drei Teile dem abhängigen Entstehen folgen und also nicht auf einer gleichbleibenden Identität beruhen. Diese Folgerung passt in den Kontext der Meditation und dient als Ansporn um Anhaftung los zu lassen.
Du kannst auch nicht ohne weiteres sagen: “Es existiert kein Ich.” Nicht-Existieren bedeutet hier: nicht wirklich sein. Das Ich ist wirklich, da seine drei Teile dem abhängigen Entstehen folgen und darum eine wahrnehmbare Auswirkung haben. Diese Folgerung passt in den Kontext der Ethik und dient als Ansporn, so wenig Leiden wie möglich zu verursachen.
Beide Argumentationen widersprechen sich nicht. Sie betonen nur verschiedene Aspekte des abhängigen Entstehens. Auf diese Weise beschrieb Nagarjuna das abhängige Entstehen als einen Mittelweg, der die beiden Extreme Existieren und Nicht-Existieren vermeidet.
Aus dem Niederländischen von Sigrun Lobst und Peter Trapet
Quelle: Niet-zelf, ZenLeven Nr.1, 2016