Leben im Herzen der Vergänglichkeit

Über Ot­ag­aki Ren­getsu (1791–1875) von Mo­ni­que Le­fer­ink op Reinink
Wie lässt sich das Un­an­nehm­ba­re an­neh­men? In ver­schie­de­nen bud­dhis­ti­schen Er­zäh­lun­gen geht es dar­um, ei­nen gro­ßen und schmerz­haf­ten Ver­lust zu ak­zep­tie­ren bzw. zu ler­nen, dies zu tun. Be­kannt ist die Ge­schich­te von der jun­gen Frau Ki­sa­go­ta­mi, die nach dem Tod ih­res ein­zi­gen Kin­des völ­lig ver­zwei­felt war und von Bud­dha den Auf­trag er­hielt, an je­dem Haus im Dorf an­zu­klop­fen und aus dem­je­ni­gen, in dem noch nie je­mand ge­stor­ben war, ein Senf­korn mit­zu­neh­men. Ki­sa­go­ta­mi kehr­te heim oh­ne ein ein­zi­ges Senf­korn, aber mit der Er­kennt­nis, dass der Tod uns al­le betrifft.
Auch die Le­bens­ge­schich­te von Ot­ag­aki Ren­getsu ist von Ver­lust ge­prägt. Ihr Le­ben und ih­re Kunst zei­gen ein­drucks­voll, wie sie dem tief er­leb­ten Be­wusst­sein der Ver­gäng­lich­keit al­les Be­stehen­den und dem Eins­sein al­ler Din­ge in ih­rer Poe­sie und Ke­ra­mik Ge­stalt zu ge­ben ver­moch­te. In die­sem Ar­ti­kel möch­te ich un­se­re Sang­ha mit die­ser au­ßer­ge­wöhn­li­chen Frau be­kannt machen.
Ren­getsu, Lo­tus­mond, ver­lor al­le ih­re drei Kin­der aus ers­ter Ehe und spä­ter zwei wei­te­re aus ih­rer zwei­ten. Au­ßer­dem star­ben ih­re bei­den Ehe­män­ner. (Ei­ne aus­führ­li­che Bio­gra­fie fin­den Sie auf der Web­site des Ren­getsu Foun­da­ti­on Pro­ject).
Im Al­ter von 33 Jah­ren, nach dem Tod ih­rer drei ers­ten Kin­der und ih­res Man­nes, war sie in tie­fer Trau­er. Sie schnitt sich die Haa­re ab und be­schloss, in den Chion-in-Te­m­­pel in Kyo­to ein­zu­tre­ten. Dort er­hielt sie den Na­men Ren­getsu (ren = Lo­tos, getsu = Mond). Nach­dem auch ih­re jüngs­ten bei­den Kin­der und ihr zwei­ter Ehe­mann in­ner­halb we­ni­ger Jah­re ge­stor­ben wa­ren, war sie ge­zwun­gen, den Chion-in-Te­m­­pel wie­der zu verlassen.
Ei­nes Abends schlief Ren­getsu, nach­dem sie kei­ne Un­ter­kunft für die Nacht ge­fun­den hat­te, im Frei­en un­ter ei­nem Kirsch­baum ein. Als sie die Au­gen öff­ne­te, war sie plötz­lich über­wäl­tigt von dem, was sie sah, es war ein Mo­ment der Erleuchtung.
Do not sim­ply gaze
At the cher­ry blossoms!
Look- the wind is blowing,
Scat­te­ring their be­au­ty, yet
This path re­mains peaceful as ever.
Star­re nicht im­mer nur
Auf die Kirschblüten!
Schau – es weht der Wind,
Ver­streut ih­re Schönheit,
Und den­noch ver­bleibt der Weg fried­lich wie immer.
Rengentsu, Selbstportrait

Ren­gentsu, Selbstportrait

Ren­getsu war durch so vie­le tief­grei­fen­de Ver­lus­te in ih­rem Le­ben tief in die Ver­gäng­lich­keit der Exis­tenz ein­ge­taucht. Ihr Trai­ning im Ami­t­a­b­ha-Bu­d­d­his­­mus, im Zen-Bu­d­d­his­­mus und im eso­te­ri­schen Bud­dhis­mus lie­fer­te ihr ei­ne Grund­la­ge, von der aus sie sich dem Le­ben, wie es sich von Au­gen­blick zu Au­gen­blick ent­fal­tet, öff­ne­te. Sie be­schrieb sich selbst als ei­ne „Wol­ke, die von ei­nem star­ken Wind an­ge­trie­ben wird“.

Nach­dem sie Chion-in ver­las­sen hat­te, be­stritt sie ih­ren Le­bens­un­ter­halt mit der Her­stel­lung von Ke­ra­mik­ob­jek­ten und dem Ver­fas­sen von Ge­dich­ten, die sie spä­ter oft in ih­re Ke­ra­mi­ken ein­gra­vier­te. Ih­re Ke­ra­mik war von An­fang an be­liebt, ih­re Tee­scha­len, Schüs­seln und Tel­ler fan­den rei­ßen­den Absatz.
Teekanne

Tee­kan­ne

Im Al­ter von 75 Jah­ren be­schloss Ren­getsu, sich in ei­ne klei­ne Hüt­te auf dem Ge­län­de des Jin­­kai-in Tem­pels in der Nä­he von Kyo­to zu­rück­zu­zie­hen. Die letz­ten 10 Jah­re ih­res Le­bens wa­ren die pro­duk­tivs­ten, sie konn­te sich nun in Ru­he der Her­stel­lung von Ke­ra­mik und ih­rer Dicht­kunst wid­men. Ren­getsu küm­mer­te sich auch sehr um das Schick­sal an­de­rer, zum Bei­spiel fer­tig­te sie tau­send Bil­der des Kan­non Bod­dhi­sat­va an, um Geld für die Op­fer ei­ner gro­ßen Flut zu sam­meln. Es wird auch be­rich­tet, dass Ren­getsu ein­mal, als ein Dieb ih­re Hüt­te be­trat, zu ihm sag­te, er müs­se ver­zwei­felt sein und mö­ge sich al­les neh­men, was er brau­che. Sie bot ihm so­gar an, ihm ei­ne Tas­se Tee zu ma­chen! An­de­ren Künst­lern ‚spen­de­te‘ sie manch­mal ih­re Un­ter­schrift, um ih­nen zu hel­fen, ih­re Wer­ke auf die­se Wei­se zu ver­kau­fen. Ren­getsu ar­bei­te­te ger­ne mit an­de­ren Künst­lern zu­sam­men und hat­te ein breit­ge­fä­cher­tes In­ter­es­sens­ge­biet. Sie stand in Kon­takt mit Geist­li­chen ver­schie­dens­ter Glaubensrichtungen.
Da sie sich ih­rer ei­ge­nen Sterb­lich­keit be­wusst war, hielt sie im­mer ei­nen Sarg mit ei­nem wei­ßen Lei­chen­tuch dar­in be­reit. Wenn je­mand in ih­rer Um­ge­bung starb und we­nig Geld hat­te, ver­schenk­te sie ih­ren Sarg. Al­le Dorf­be­woh­ner wuss­ten das; wenn die Zeit ge­kom­men war, sag­ten die Leu­te oft: „Geh und ho­le bei Ren­getsu ei­nen Sarg“.
Jah­re spä­ter bat sie To­mio­ka Tes­sai (1837–1924), ei­nen be­freun­de­ten Künst­ler und Günst­ling, den Mond und ei­ne Lo­tus­blu­me auf ihr wei­ßes Lei­chen­tuch zu ma­len. Nach­dem er dies ge­tan hat­te, fal­te­te sie das Tuch sorg­fäl­tig zu­sam­men und leg­te es in ei­ne Holz­kis­te. Nach ih­rem Tod wu­schen die Dorf­be­woh­ner sie und wi­ckel­ten sie in das wei­ße Lei­chen­tuch. Da wur­de das Ge­dicht sicht­bar, das sie in die Mit­te des Tu­ches zwi­schen die Zeich­nung des Mon­des und der Lo­tus­blu­me ge­schrie­ben hatte:
My ho­pe
Fin­ding a way
To behold
The cloud­less moon
Upon a lo­tus blos­som in the next world.
Mei­ne Hoffnung
Ei­nen Weg zu finden
Um anzuschauen
Den wol­ken­lo­sen Mond
Auf ei­ner Lo­tos­blu­me in der nächs­ten Welt.

Dichtung

Seit lan­gem schät­ze ich ein Büch­lein, das ich hin und wie­der auf­schla­ge: Lo­tus Moon, die Dich­tung der bud­dhis­ti­schen Non­ne Ren­getsu. Über­setzt und ein­ge­lei­tet von John Ste­vens. Das Büch­lein ent­hält vie­le von Ren­getsus Ge­dich­ten, die ins Eng­li­sche über­setzt wur­den. Es ist mit meh­re­ren Fo­tos ih­rer au­ßer­ge­wöhn­li­chen Ke­ra­mik­ar­bei­ten il­lus­triert und ent­hält ein ge­mal­tes Porträt.
Ren­getsu gilt als ei­ne der gro­ßen ja­pa­ni­schen Dich­te­rin­nen des 19. Jahr­hun­derts. Ihr Ta­lent war von An­fang an of­fen­kun­dig. Als jun­ge Frau er­lern­te sie das Schrei­ben von Wa­ka, al­so Ge­dich­ten, die aus fünf Zei­len und 31 Sil­ben be­stehen, 5–7‑5–7‑7. Sie hin­ter­ließ mehr als tau­send Wa­ka. Ih­re Art zu schrei­ben ent­wi­ckel­te sich zum Teil durch das Ein­rit­zen in Ton und wird für ih­re run­den, dün­nen, ele­gan­ten, zar­ten Stri­che und die vie­len Leer­stel­len zwi­schen den Wor­ten ge­mocht. Die har­te Be­schaf­fen­heit von Ton er­for­der­te kla­re For­men. Ren­getsu schrieb in ei­ner ja­pa­ni­schen Sil­ben­schrift (Hi­ra­ga­na), ei­ner ele­gan­ten Ver­ein­fa­chung der ge­wöhn­li­chen ja­pa­ni­schen Schrift, in Buch­sta­ben, die auch An­alpha­be­ten und Frau­en (sic!) le­sen konn­ten. Sie il­lus­trier­te ih­re Ge­dich­te mit Bil­dern aus der Na­tur: ein­fa­chen jah­res­zeit­li­chen Mo­ti­ven wie ei­nem Zweig mit Kirsch­blü­ten, dem Mond, Au­ber­gi­nen, Vö­geln, Schmet­ter­lin­gen und manch­mal auch an­de­ren Tie­ren. Ren­getsu war sich sehr be­wusst, wie eng un­ser Le­ben mit der Na­tur ver­wo­ben ist. Au­ßer­dem ori­en­tier­te sie sich in ih­rem Werk an der dich­te­ri­schen Tra­di­ti­on, der sie an­ge­hör­te. So war sie bei­spiels­wei­se ei­ne gro­ße Be­wun­de­rin des Mönchs und Dich­ters Sai­gyo Ho­shi (1118–1190), der Wa­ka über die Na­tur, die Lie­be und die Ver­gäng­lich­keit schrieb, und des Hai­­ku-Meis­­ters Mat­suo Bas­ho (1644–1694). Sie kal­li­gra­phier­te ih­re Ge­dich­te auf dün­ne Pa­pier­strei­fen (tanz­aku) oder auf qua­dra­ti­sches Pa­pier (shi­ki­shi). Sie be­schrif­te­te sie auch mit ei­nem Pin­sel oder ei­nem Mei­ßel in nas­sen Ton.
Moun­tain fal­ling flowers
We ac­cept the graceful falling
Of moun­tain cher­ry blossoms,
But it is much har­der for us
To fall away from our own
At­tach­ment to the world.
Fal­len­de Blü­ten in den Bergen
Das an­mu­ti­ge Fallen
Der Kirsch­blü­ten in den Ber­gen neh­men wir hin
Aber viel schwie­ri­ger ist es für uns
Un­se­re ei­ge­ne Bindung
An die Welt loszulassen.
Ice in the Moun­tain Well
Yesterday
I shat­te­red the ice
To draw water –
No mat­ter, this morning
Fro­zen just as solid.
Eis im Gebirgsbrunnen
Gestern
Zer­brach ich das Eis
Um Was­ser zu schöpfen
Macht nichts, heu­te Morgen
Ist’s ge­nau­so fest gefroren.

Keramik

Teeschale

Tee­scha­le

Weihrauchbehälter

Weih­rauch­be­häl­ter

Ren­getsus Ke­ra­mik war so be­liebt, dass fast je­der Haus­halt in Kyo­to min­des­tens zwei oder drei ih­rer Ob­jek­te be­saß. Ren­getsu stell­te Tee­kan­nen und Tee­tas­sen her, aber auch Tel­ler, Fla­schen und Tas­sen für Sa­ke und vie­les mehr. Ih­re Ke­ra­mik ba­siert auf der Wa­­bi-Sa­­bi-Äs­­the­­tik: der Schön­heit der Un­voll­kom­men­heit. Ih­re Ke­ra­mik ist na­tür­lich und un­ge­zwun­gen und gleich­zei­tig von er­ha­be­ner Schön­heit. Als sie En­de vier­zig war, be­gann sie, ih­re Ge­dich­te in den noch feuch­ten Ton ein­zu­gra­vie­ren. Ih­re Ke­ra­mik wur­de häu­fig bei Tee­ze­re­mo­nien ver­wen­det. Ob­wohl Ren­getsu Tee­kan­nen und Tas­sen für die of­fi­zi­el­len Matcha-Tee­­ze­­re­­mo­­ni­en her­stell­te, galt ihr Herz der Her­stel­lung von Tas­sen und Kan­nen für die da­mals eher in­for­mel­len Sencha-Teezeremonien.
Me­lis­sa Mc­Cor­mick (sie­he Quel­len­ver­zeich­nis) be­zeich­net Ren­getsus ke­ra­mi­sches Werk als Ver­stei­ne­rung ih­rer ir­di­schen Exis­tenz, als ma­te­ri­el­les Zeug­nis. Ih­re In­schrif­ten ha­ben ei­ne star­ke kör­per­li­che Kom­po­nen­te, sie ent­ste­hen aus Atem und Geist und sind spür­bar, wenn man mit dem Fin­ger über ei­nes ih­rer Ob­jek­te streicht. Ren­getsus mit dem von ihr ge­schaf­fe­nen Ob­jekt eins ge­wor­de­ner Kör­per war so­zu­sa­gen das Ve­hi­kel für das von ihr ge­schaf­fe­ne Ob­jekt und das von ihr be­schrif­te­te Wa­ka. Ren­getsu ar­bei­te­te ger­ne mit an­de­ren Töp­fern wie Kur­o­da Ko­ryo (1822–1894) und Is­so (19. Jahr­hun­dert, ge­naue Da­ten un­be­kannt) zusammen.
Ne­ben Ge­dich­ten ver­wen­de­te Ren­getsu in ih­ren ke­ra­mi­schen Ar­bei­ten häu­fig Mo­ti­ve aus der Na­tur, mit ei­ner Vor­lie­be für die Lotusblume.
Ren­getsu schrieb auch mehr als 300 Brie­fe, von de­nen ei­ni­ge auf der schö­nen Web­site des Ren­getsu Foun­da­ti­on Pro­ject ver­öf­fent­licht wur­den, ei­nem Pro­jekt, das sich seit 2005 dem um­fang­rei­chen Nach­lass und der Über­set­zung ih­rer zahl­rei­chen Ge­dich­te widmet.
Da Ren­getsu im­mer in der La­ge war, der Zer­brech­lich­keit der Exis­tenz aus ih­rem Herzen/Geist her­aus ei­nen Sinn zu ge­ben, sind ihr Le­ben und ihr Werk ei­ne be­stän­di­ge, in­spi­rie­ren­de und be­ein­dru­cken­de Quel­le der Leh­re über die Vergänglichkeit.

Be­nutz­te Quellen:
(Aus dem Nie­der­län­di­schen über­setzt von Do­ris Behrens)
Quel­le: Le­ven in het hart van verg­an­ke­li­jk­heid aus Zen­Le­ven Früh­jahr 2025