Während des Corona-Lockdowns in der ersten Jahreshälfte 2020 konnten Zen-Praktizierende wöchentlich Ermutigungen abwechselnd von Jiun Roshi und Tetsue Roshi erhalten. Dieser Text wurde von Jiun Roshi kurz nach Ostern als Ermutigung versendet.
Erbarme Dich
Heute ist Ostermontag, Zeit, die nächste Ermutigung zu schreiben, damit Frank sie rechtzeitig ins Deutsche übersetzen kann. Wir leben nun schon seit einigen Wochen nach den Regeln des „intelligenten Lockdowns“. Auf Noorder Poort ist es sehr ruhig, und wir merken hier eigentlich nicht viel von dem, was das Corona-Virus verursacht.
Vorige Woche erhielt ich eine Mitteilung über ein Mitglied unserer Sangha, Ron, der auf der Intensivstation liegt und ins Koma versetzt wurde. Eine herzzerreißende Situation für seine Kinder und seine Freunde, die keine Möglichkeit haben, mit ihm in Kontakt zu treten. Ich stellte mir vor, dass auch andere Menschen in so einer Lage sind und dass viele vermutlich Angst haben, selbst hinein zu geraten. Mit diesen Gedanken stieg ich in mein Auto, um zum Einkaufen zu fahren. Ich höre im Auto gerne Radio, am liebsten Gesprächssendungen. Als ich das Radio anmachte, wurde offenbar gerade eine Aufführung der Matthäus-Passion gesendet, und ich hörte dies:
Aus: J.S. Bach Matthäus Passion, Elly Ameling, Birgit Finnilae, Seth McCoy, Benjamin Luxon, Ernst Haefliger, English Chamber Orchestra o.l.v. Johannes Somary
Tränen traten mir in die Augen, und ich musste an die Worte von Prabhasa Dharma Roshi denken: Wenn Tränen kommen, dann bedeutet das, dass du in Kontakt mit dem Wahren bist.
Mir wurde klar: In diesem „Erbarme dich“ ist alles, worum es geht. Für mich ist das nicht mit einem Gott verbunden.
Das „Erbarme dich“ berührt mich in meinem Herzen und verbindet mich mit einem tiefen Vertrauen. Das, was sich meiner erbarmt, ist viel größer, als ich erfassen kann, und es lässt mich begreifen, dass ich als Mensch Teil eines gigantischen Ganzen bin. Es lässt mich einsehen, dass wir als Menschen viel weniger können, als wir denken. Da ist das Unnennbare, das weder der Anfang noch das Ende von allem ist, was es gibt.
Was in diesen Zeiten von Corona geschieht, gehört auch zu diesem Ganzen: das Leiden, das Gefühl der Ohnmacht, die Erkenntnis, dass das, was geschieht, über uns Menschen hinausgeht, dass wir nichts tun können. Das „Erbarme dich“ erinnert mich daran, mich hinzugeben an das, was ist und das zu tun, was getan werden muss. Und das, was zu tun ist, ist für jeden von uns anders. Und das, was ich jetzt, in diesem Moment, tun muss, ist etwas später der morgen womöglich nicht das, was ich tun muss.
Wenn Zweifel aufkommen, wenn ich mich durch Erwartungen oder Ängste mitreißen lasse, dann kann ich mich an den Ort begeben, wo etwas sich meiner erbarmt. Das Etwas ist in mir und auch in dir, in uns allen, in allem, was ist. Es ist unser wahres Zuhause. Wenn ich dann auf diese Weise zu Hause bin, fühle ich mich sicher und kann an Ron denken, der jetzt auf der Intensivstation liegt.
Mögen alle Wesen glücklich und frei von Leiden sein.
Mögen alle Wesen zufrieden sein, möge niemand traurig sein.
Om Mani Padme Hum.
Mit einem herzlichen Gruß im Dharma
Quelle: Ontferm u, ZenLeven Frühjahr 2020