Jiun roshi spricht von den zwei Wahrheiten
Ansprache aus dem Dai-Sesshin im August 2017
Guten Morgen.
Meister Shuzan hielt einen Stock hoch und sagte: “Lehrlinge, wenn ihr dies einen Stock nennt, dann seid ihr an den Namen gebunden. Wenn ihr dies keinen Stock nennt, dann leugnet ihr die Tatsache. Sagt mir, wie nennt ihr dies?”
Eine typische Zen-Geschichte. Wenn man es einen Stock nennt, macht man es falsch und wenn man es keinen Stock nennt, dann macht man es auch falsch. Wenn man sich Zen-Geschichten anschaut, dann sieht man, dass sehr häufig Paradoxa dieser Art darin vorkommen. Und solange wir versuchen, es zu verstehen, werden wir es nicht verstehen. Dann haben wir ein Problem. Solange wir im Zustand des Unterschiedes zwischen “ich und dem Anderen” verweilen, können wir nicht anders, als so eine Geschichte nur als ein Paradox zu betrachten.
Warum kommen Paradoxa so häufig vor? Wissen die Zenmeister selber vielleicht auch nicht Bescheid und reden sie nur so daher? Sogar Meister Joshu, der berühmte Zenmeister des Mu-Koan, verwirrt uns. Auf die Frage hin, ob ein Hund die Buddhanatur besitzt, sagt er das eine Mal Mu, das eine Verneinung ist, und ein anderes Mal sagt er U, das eine Bestätigung ist. Was sollen wir damit anfangen?
All die Antworten finden ihren Usprung in der Wirklichkeit. Weil die Wirklichkeit zwei Aspekte besitzt: Einen relativen und einen absoluten Aspekt. Darum sprechen wir im Buddhismus und im Zen häufig von den zwei Wahrheiten. Der relativen und der absoluten Wahrheit. Man sollte jetzt bloß nicht glauben, dass das zwei separate Wahrheiten sind. Es sind zwei Aspekte, verschiedene Seiten einer und derselben Wahrheit.
Am Anfang unserer Zen-Übung, und auch danach, befinden wir uns häufig vollständig in der relativen Wahrheit. Wir leben in einer Welt von Glück und Unglück, Kummer, Verlangen und Leiden, und infolgedessen üben wir, um glücklicher zu werden, oder weniger unzufrieden. Aber wenn wir uns einseitig an diese relative Welt binden, dann kreieren wir Gegensätze. Dann gibt es Glück und darum auch immer Unglück. Dann wird Zufriedenheit Unzufriedenheit entgegengesetzt. Und für uns gibt es dann nur entweder – oder. Entweder sind wir glücklich oder unglücklich. Und weil wir das so trennen, üben wir, um glücklich zu werden.
Es kann sein, dass wir schon etwas von Buddhas Lehre aufgeschnappt haben und dass wir daraus geschlossen haben, dass es in der Zen-Übung eigentlich darum geht, das Unglück und das Leiden verschwinden zu lassen. Oder besser noch, wir verstehen Buddhas Lehre in dem Sinne, dass eigentlich alles ein und dasselbe ist, dass nichts wirklich existiert, alles eigentlich eine Illusion ist, da letztendlich alles leer ist. Daraus schlussfolgern wir, dass alles egal ist, dass es also darum geht, uns vollkommen gleichgültig zu verhalten. Wenn man befreit ist, dann kann es keinen Kummer geben. Und so machen wir weiter, aus einer falschen Interpretation der Lehre Buddhas heraus. Schmerz, Kummer: Das ist alles nur Illusion.
Wenn das so wäre, dann würde das beispielsweise bedeuten, dass Buddha zu jemandem, der Zahnschmerzen hat, sagen würde: “Ach, komm schon, das ist eine Illusion, dieser Zahnschmerz, die Schmerzen sind nicht echt.” Oder denkst du, dass es Buddha zufolge keine Trauer gibt, wenn du eine/-n Geliebten verlierst? Denkst Du, dass Buddha selbst, wenn du ihn ganz stark in den Arm kneifen würdest, keinen Schmerz spüren würde? Dass er dort sitzen würde wie ein Heiliger, unantastbar, als ob nichts los wäre? Natürlich würde es den Schmerz geben. Aber die Frage ist: Würde Buddha darunter gelitten haben? Würde Buddha unter der Trauer so stark leiden, dass er nicht mehr das tun könnte, was getan werden muss? Buddha war klar, dass das Leben, mit all seinen Höhen und Tiefen, mit allem was dazu gehört, mit Regen und Sonnenschein, ohne Dukkha, ohne Unzufriedenheit, ohne Leiden gelebt werden kann. Das ist es, was er in seiner Lehre der Vier Edlen Wahrheiten unterrichtet hat. Und wenn man seine Texte darüber liest, dann könnte man sagen, dass er diese Lehre als eine relative Wahrheit präsentiert hat. Damit hat er seine Lehre jedem zugänglich gemacht. Er hat uns die Tür zur Übung geöffnet.
Wenn man sich jedoch das Herzsutra anschaut, dann sieht man, dass dort dieselbe Lehre Buddhas als absolute Wahrheit präsentiert wird. Dort steht: Avalokiteshvara sah, dass es kein Leiden gibt, dass es keine Ursache des Leidens gibt, kein Ende des Leidens und keinen Weg zum Ende des Leidens. Tsss… nicht nur die Zenmeister sprechen in Paradoxa, auch Buddha und Avalokiteshvara widersprechen einander. Der eine sagt: Es gibt Leiden, und er begründet seine ganze Lehre darauf, und der andere sagt: Leiden gibt es nicht.
Beide sprechen die Wahrheit. Aber sie betrachten die Wahrheit aus verschiedenen Perspektiven heraus. In den Vier Edlen Wahrheiten spricht Buddha in relativen Begriffen und im Herzsutra spricht Avalokiteshvara in absoluten Begriffen. Jedoch alles, was Buddha unterrichtet hat, geht aus seiner Verwirklichung von sowohl dem Relativen als dem Absoluten hervor. Er hat die relative Welt als eine absolute, eine universelle Wirklichkeit realisiert [1].
Die zwei Aspekte der Wirklichkeit werden sehr oft mit dem Ozean und seinen Wellen verglichen. Wenn man den Strand entlang geht, sieht man sehr unterschiedliche Wellen. Es gibt hohe und weniger hohe Wellen, es gibt kurze und lange Wellen. Wellen mit viel und Wellen mit wenig Schaum. Aber welche Form auch immer die Welle hat, alle Wellen sind aus Wasser. Das Leben der Welle kann nicht vom Leben des Wassers getrennt werden. Wenn die Welle nicht begreift, dass sie aus Wasser ist, dann wird sie tatsächlich denken, dass sie hoch ist, oder kurz oder schäumend, und sogar, dass ihre Dauer ein Ende hat. Dann sieht sie den Strand näher kommen und steigt die Angst in ihr auf. Oooh… ich werde sterben. Sie erkennt nicht, dass sie aus Wasser ist. Dass es kein Ende ihres Lebens gibt, und auch keinen Anfang.
Und wir denken, die Welle an ihrem Äußeren zu erkennen: hoch, flach, kurz, lang… aber in ihrem Wesen als Wasser gibt es diese Eigenschaften nicht. Genau so gibt es in der Welt des Absoluten keine Eigenschaften. Und gleichzeitig ist die Welt auch relativ, mit allen Eigenschaften, die es gibt.
Zen hat, ich würde fast sagen, den Mut, die Übung mit der Verwirklichung des Absoluten zu beginnen. Und dann dieses Absolute in jeder Aktion, in jeder relativen Aktion, wenn man so will, verwirklichen zu lernen. Zu leben. Zen leben bedeutet das Absolute und das Relative zu leben. Und das is genau das, was wir mit der Koan-Übung tun. Einerseits konzentriert sich die Koan-Übung auf die Verwirklichung des absoluten Aspekts der Wirklichkeit und anderserseits geht es bei der Koan-Übung um die Manifestation der Nicht-Dualität des Absoluten und des Relativen.
Man kann dies im Sanzen auf hunderttausende verschiedene Arten zeigen. Man kann sich auch vorher ausdenken, was man antworten wird. Solange es nahtlos zur Frage des Koans passt. Und solange die Antwort nur eine Manifestation sowohl des Absoluten als auch des Relativen ist.
Stell dir vor, du sitzt mit dem Koan Wann wurdest du geboren. Du läufst draußen mit der Gruppe in Kinhin und auf einmal fängt ein Schaf an zu blöken. Aaah! Oder stell dir vor, es ist regnerisch, kein Kinhin draußen. Du sitzt in Meditation im Zendo, die Fenster sind weit offen und auf einmal hörst du einen Regentropfen auf die Steine vor dem Fenster fallen. Aaah!
Zwei Ereignisse, durch die du begreifst, wie man das Koan beantworten kann. Dann musst du es auch noch tun, im Sanzen, und zwar so, als wärst du tatsächlich in dem Moment geboren worden. Dein ganzes Wesen wird in der Verwirklichung dieser Einsicht geboren.
Bei einer guten Koan-Antwort ist etwas vom Selbst verschwunden. Oder, wie mein Meister Prabhasa Dharma zenji sagte: “Du durchquerst das Tor ohne die Koffer, in denen du all deine Erwartungen und Vorstellungen und was-weiß-ich-noch-alles hast.” Vorstellungen wie ‘ich muss es richtig machen’, oder ‘ich muss freundlich durch das Tor gehen’. Die Koffer gibt es alle gar nicht.
Und das passt sehr gut zu dem Zitat, das heute auf Tricycle [2] steht: The spiritual path is about what we give up, not what we get. Auf dem spirituellen Weg geht es um das, was wir aufgeben, nicht um das, was wir bekommen. Also, in dem Moment, in dem man antwortet, in dem Moment, in dem man in Wahrheit lebt, hat man alles aufgegeben. Und gleichzeitig ist man vollkommen da.
Also, wenn das jetzt kein guter Tag wird! Es liegt ganz an dir.
[1] In Zen wird mit Verwirklichung eine direkte Erfahrung mit dem absoluten Aspekt der Wirklichkeit angedeutet: Der Aspekt ohne Unterschied zwischen ich und dem Anderen, schön und hässlich, glücklich und unglücklich…
[2] US-Amerikanische buddhistische Zeitschrift mit zugehöriger Webseite, auf der man sich für ein tägliches Zitat anmelden kann (daily dharma).
Übersetzung aus dem Niederländischen von Sandra Möller (freiberufliche Übersetzerin, zu erreichen unter ).
Quelle: Jiun roshi over de twee waarheden, ZenLeven Herbst 2017