Hans Reddingius (geboren 1930) lernte in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts die japanische Versform des Haiku kennen und war von ihr gefesselt. Er ist schon viele Jahre aktives Mitglied vom Niederländischen Haiku-Zirkel, auch war er sieben Jahre lang leitender Redakteur der niederländischen Abteilung der Niederländisch-Flämischen Haikuzeitschrift Vuursteen (Feuerstein). Seit 1998 praktiziert er Zen, unter anderem in Retreats auf Noorder Poort. Er kümmert sich für ZenLeven um die Haikurubrik.
Jahreszeiten
ferien am meer
ihre fußabdrücke
wieder etwas größer
Frieda Gheysens
Nach der japanischen Tradition muss ein Haiku eine Jahreszeitenandeutung enthalten. Daran mangelt es dem obigen Haiku nicht. Ferien am Meer: das muss im Sommer sein. Doch dann kommt ein Stück, wo man sich als Leser etwas hinzudenken muss, denn es wird nichts genaues benannt. Von wem sind die Fußabdrücke etwas größer, größer als was, und seit wann? Meine Auslegung ist: hier erzählt ein Elternteil, welches, genau wie letztes Jahr, mit ihrem oder seinem kleinen Mädchen an den Strand geht und nach den Fußabdrücken des Kindes im Sand schaut. Er oder sie erinnert sich, wie die Fußabdrücke voriges Jahr aussahen, sie haben dieselbe Form aber sie sind größer geworden – und das ist früher schon mal passiert. Das ist eine ganze Geschichte, aber wenn man es so in Prosa niederschreibt, macht es nicht viel her. Das Haiku jedoch, indem es nur verkürzt wiedergibt, was dort zu sehen ist, ruft direkt ein Gefühl hervor.
In traditionellen japanischen Haikus sollte man ein und nicht mehr als ein Jahreszeitenwort antreffen. Ein Jahreszeitenwort (kigo) ist ein Wort, durch das die Jahreszeit sofort zu erkennen ist. Man hat ganze Bände mit gängigen Jahreszeitenworten gefüllt. Einige dieser Worte liegen auf der Hand, so wie Schnee für Winter oder Kirschblüten für das Frühjahr. Andere jedoch waren weniger selbstverständlich: Nebel für Frühling, Mond für Herbst, Wildenten für Winter. Blitz ist ein Jahreszeitenwort für August, in Japan früher Herbst, bei uns Spätsommer.
Der Blitz zuckte –
durch eine Öffnung im Wald
wurde Wasser sichtbar.
Masaoka Shiki (1867–1902)/J. van Tooren
Dies ist eines von den Haikus, die ich mag und ich hoffe, dass du Leser es auch ohne weitere Erläuterung schätzen kannst. Aber wenn du dies liest, ist es schon Herbst. Natürlich eine Jahreszeit mit Spinnweben, fallenden Blättern, Dunst und Nebel, Sturm und Regen.
Zu eignen Zeiten
brechen Eicheln die Stille
eines Schieferdachs.
Anton Gerits
Die Stille eines Schieferdaches – nun ja, ein Schieferdach macht gewöhnlich keinen Lärm, es liegt da, im Grunde unverwüstlich und auch ein bisschen altmodisch. Aber wir haben die Redewendung „es rutscht wie vom Schieferdach“, was bedeutet, dass etwas sehr einfach und selbstverständlich geht. Ebenso selbstverständlich fallen die Eicheln und im Fallen machen sie ein Geräusch auf diesem Dach. Nicht alle gleichzeitig und auch nicht nach einem offensichtlichen Muster. Jede Eichel fällt so ganz zu ihrem eigenen Zeitpunkt. Du kannst dich hinsetzen und auf dieses Ticken lauschen. Die Jahreszeiten kommen und gehen, Stille wechselt mit Klang und es ist gut so.
Haikus aus: Vuursteen Tijdschrift voor haiku, senryu en tanka, jaargang 35 nr 1, Lente 2015; Haiku Een jonge maan. Japanse haiku van de vijftiende eeuw tot heden, Keuze, inleiding en vertaling door J. van Tooren. Meulenhoff, Amterdam 1973; Haiku, een vroege pluk. Samengesteld door Simon Buschman. Kairos, Soest 1981
Aus dem Niederländischen von Sigrun Lobst und Peter Trapet
Quelle: Seizoenen, ZenLeven Nr.2 2016