Wach sein – von Moment zu Moment
Ein chinesischer Gelehrter hörte von einem Zenmeister, der sich einige Tagesreisen entfernt auf einem Berg niedergelassen hat. Er beschließt ihn aufzusuchen, um Antworten des Meisters auf seine Ansichten über die Buddhanatur, die Essenz des Zen, über Wiedergeburt, die Existenz einer Seele und andere wichtige Themen zu erhalten. Nach einem anstrengenden Aufstieg erreicht er den Tempel des Meisters und wird zu ihm vorgelassen.
Der Zenmeister hört sich seine Fragen an. Er bietet ihm Tee an. Der Gelehrte schaut etwas erstaunt auf und nickt. Der Meister schenkt Tee ein, bis dieser in die Untertasse überläuft. Da ruft der Gelehrte: „Halt ein, die Tasse ist voll!“ Der Meister sagt: „Mit dem Tee ist es wie mit dir. Du bist so voll, da ist kein Platz mehr um etwas aufzunehmen. Komm wieder, wenn du Raum in dir geschaffen hast.“
Wir alle wissen, dass wir Befreiung nicht durch Wissen erlangen. Aber wie steht es um uns? Ist da Raum in uns, um zuzuhören, um etwas aufzunehmen?
Was wäre, wenn an Stelle von „Gelehrter“ stehen würde: Mönch, Nonne, Koch, Teilnehmerin?
Was geschieht mit dem Tenzo (Koch), wenn die Meisterin Anweisung gibt, weniger Salz zu gebrauchen? Oder die Küche besser sauber zu halten?
Kommt dann: Ja, aber …
Oder sagst du vielleicht JA und denkst noch lange darüber nach, dass du das doch eigentlich gut machst, dass das Essen ohne Salz nicht schmeckt, dass der Tenzo vor dir nicht ordentlich geputzt hat und du immer derjenige bist, der nach den anderen aufräumen muss.
Was ärgert dich, nervt dich, ermüdet dich als Nonne oder Mönch? Dass du immer wieder die gleichen Anweisungen und Erklärungen geben musst? Dass deine Anweisungen nicht korrekt ausgeführt werden?
Und wie geht es dir als Gast? Wie oft hast du schon gehört, wie du das Zendo zu betreten hast? Wie du in den Warteraum gehst? Wie du dein Zimmer sauber zu machen hast? Hörst du wirklich zu?
Der Meister sagte zum Gelehrten: „… komm wieder, wenn du Platz in dir geschaffen hast.“
Platz schaffen, Raum geben, weit werden. Wie machen wir das?
Warum zieht der Mönch morgens beim Klingelzeichen seine Robe an?
Automatisch? Wahrscheinlich.
Aber irgendwann hast du die Entscheidung getroffen, Klingelton und Aufstehen zu verbinden. Immerhin! Das Gute daran ist, dass du nun nicht mehr täglich mit dir diskutierst, ob du nun aufstehst oder liegen bleibst, weil es so schön ist im Bett.
Der nächste Schritt ist, dass du den Klingelton hörst und „wach“ bist: waschen, anziehen, lüften, Tee kochen … JETZT – JETZT – JETZT
Kein Gedanke daran, dass du das alles seit 4 Wochen, 1 Jahr oder 10 Jahren machst. Kein Gedanke daran, dass es noch 1 Stunde oder 20 Jahre so sein wird.
Platz schaffen, Raum geben, weit werden, wach sein, zuhören …
Alles geht darum, in diesem Moment, und wieder in diesem Moment „wach“ zu sein.
Kürzlich habe ich in der Zeitschrift „Spektrum“ gelesen, dass die Gehirnforschung belegt hat, dass wir nur dann wirklich bewusst und wach sind, wenn etwas Überraschendes geschieht.
Nur bewusst und wach, wenn etwas Überraschendes geschieht? Das klingt zunächst nicht sehr ermutigend, wenn wir einen Blick auf das Sesshinprogramm, unsere tägliche Meditation, unser Arbeitsleben, unsere Beziehungen oder unsere Familie werfen. Wie ist das bei dir? Setzt du dich zur Meditation hin mit dem Gedanken, dass dir gleich wieder das Bein einschlafen oder der Rücken schmerzen wird? Nimmst du die tägliche Meditation als gute Gelegenheit, um deinen Tagesablauf zu strukturieren? Weißt du schon immer im Voraus, was deine Mutter oder dein Partner dir sagen wird? Wirst du auf die Frage deines Kollegen, wie es dir geht, antworten: „Wie immer“, oder „Alles gut“ – auch wenn beides nicht stimmt?
Bist du „wach“, in „offener Gestimmtheit“ oder „reagierst“ du nur?
Wir trainieren das Wachsein in unserer Zenübung, als Laie ebenso wie als Mönch oder Nonne.
Wir trainieren es beim Atemzählen, wenn wir verschmelzen mit Eeeeins – verschwinden — neu auftauchen, Zweeeiii …
Jede von uns weiß, wie schwierig das manchmal ist. Besonders wenn viele Eindrücke, starke Emotionen, Erinnerungen uns besetzt haben.
Aber wahrscheinlich hat jeder hier im Raum auch bereits die Erfahrung gemacht, dass es manchmal „überraschender Weise“ anders, völlig neu ist: das Atemzählen, Teig kneten, WC putzen, PC hochfahren, Hund ausführen oder den Weg kehren.
Ich lade euch ein zur Übung des Atemzählens. Jeden Moment neu …
GANZ WACH SEIN!
Mein Vater sagte immer wieder, wenn ich mich in der Pubertät wegträumte: „Hallo, hier spielt die Musik!“ Es ist klar, was er damit meinte, er wollte mich in den gegenwärtigen Moment, die gegenwärtige Situation zurückholen. Aber deshalb war er noch kein Zenlehrer.
Ich habe oft Menschen getroffen, die sehr gegenwärtig gelebt haben. Oft waren es erfolgreiche Menschen. Aber sind sie dadurch befreit? Erleuchtet? Sicher nicht.
Es fehlt etwas Entscheidendes: Die Erfahrung des Verschwindens im Ungeborenen und das Realisieren des Ungeborenen Geistes.
Meister Bankei fasste das in die Worte: „Was ich euch in meinen Unterweisungen darlege, ist der ungeborene Geist der erleuchtenden Weisheit – sonst nichts. Allen Menschen ist dieser Geist eingeboren, doch sie wissen es nicht.“
Dieser Ungeborene Geist wird auch manchmal als Nicht-Wissen oder aktiv gewendet als Anfängergeist bezeichnet.
Ich habe in den letzten 2 Jahren drei Menschen beim Sterben begleitet. Es war jedes Mal ein Geschenk. Im Sterben wird jedem Menschen deutlich, dass er oder sie
1. Nichts festhalten kann, und dass es
2. Völlig ungewiss ist, was kommt.
Nichts festhalten: kein Haus, kein Wissen, keine Meinung, keine Liebsten, keine Sorge um die Liebsten, keine Lebensaufgabe, keine Pisse und Kacke, keinen Schmerz, nichts Heiliges und nichts Gewöhnliches.
„ZERO“ – Nichts – MU
Damit verschwinden Wünsche, Ideen, Träume, Vorstellungen, Logik, richtig und falsch, Gerechtigkeit, Liebe, Weisheit, Mitgefühl oder was es sonst noch Wichtiges und Unwichtiges
in unserem Leben gibt.
(Hekiganroku, Koan 43):
Ein Mönch sagte zu Meister Tozan: „Kälte und Hitze überfallen uns. Wie können wir das vermeiden?“ Tozan sagte: „Warum gehst du nicht dahin, wo es keine Kälte und Hitze gibt?“ Der Mönch sagte: „Wo ist der Ort, wo keine Kälte und Hitze ist?“ Tozan antwortete: „Wenn es kalt ist, lass es so kalt sein, dass es dich tötet. Wenn es heiß ist, lass es so heiß sein, dass es dich tötet.“
Der Moment zwischen Aus- und Einatmen ist wie der Tod: ZERO – Nichts – MU
Damit komme ich zu 2. Es ist völlig ungewiss, was kommt.
„Ping“ schlägt das Steinchen an das Bambusrohr. „Au“ schneidet das Messer in die Fingerspitze.
Nichtwissen, Anfängergeist oder Überraschung, wie Neurowissenschaftler das nennen.
Diesen 2. Teil können wir nicht „machen“, nicht „planen“, nicht „kontrollieren“. Wenn wir das endlich einsehen, nützt es auch nichts. Das Denken ist eins der großen Hindernisse, die im Wege stehen. Solange du denkst „weiß ich schon; kann ich schon oder kann ich alles nicht, ich habe nicht genug Geduld und Ausdauer“ legst du dir Scheuklappen an, schneidest du deine Lebendigkeit ab.
Also können wir gar nichts tun? Ist es Zufall oder Karma?
Karma ja. Das machen wir aber auch selbst. Sobald uns jemand erzählt hat, wie das Atemzählen geht, können wir damit anfangen. Mit Anfängergeist, mit Nichtwissen. Wie Kinder, bevor sie anfangen zu „wissen“.
Sei wach! Ganz wach sein, im Ungeborenen verschwinden, auftauchen …
Und dann hörst du, dass deine Partnerin dich verlassen will; dein Mitbewohner oder Kollege macht eine dumme Bemerkung; du liest, dass die EU festgelegt hat, dass weitere 7 Jahre Milliarden in die industrielle Landwirtschaft fließen. Was geschieht da in dir? Spürst du Wut, Frust, Resignation, Verzweiflung?
Im Sesshin die Vögel zu hören und in seiner Mitte zu bleiben ist eine schöne Sache, aber dieser verflixte Alltag …
Ein Sanghamitglied, ein junger Mann Mitte Dreissig, bekam vor einigen Jahren die Diagnose ALS, eine Krankheit, die zu Problemen beim Sprechen, Schlucken, Bewegen und Atmen führt und die Lebenserwartung auf 3–4 Jahre senkt. Er war noch einige Male auf Noorder Poort mit den ersten Symptomen und hat uns von seiner Krankheit erzählt und wie er damit umgeht.
Eine große Hilfe für ihn war das Koan: Zuigan ruft sich selbst „Meister“.
Meister Zuigan pflegte sich jeden Tag selbst zuzurufen: „Meister!“ und zu antworten: „Ja!“
Dann rief er erneut: „Sei ganz wach!“ und er antwortet: „JA! JA!“ – „Lass dich nie mehr von anderen täuschen!“ – „Nein! Nein!“.
Bist du wach, wenn Angst, Wut, Frustration, Resignation oder Verzweiflung auftauchen? Du bist voller Energie, aber nicht wach. Mit deinem ganzen Wesen wach sein heißt Kopf, Herz, Körper sind durchlässig, offen wie ein Haus mit vielen offenen Fenstern.
Aber die Emotionen täuschen dich, die Fenster sind dicht geschlossen. Wir sagen manchmal: vor Wut kochen – das geschieht in deinem Körper in so einem Moment. Aber wohin mit dieser Energie?
Der kranke junge Mann hat Projekte gestartet in denen diese Krankheit weiter erforscht und Heilmittel gesucht werden. Er wusste, dass es für ihn zu spät kommt, aber es gibt noch so viele andere Menschen, die an dieser Krankheit erkranken werden. Mit dieser Öffnung zu anderen hin – dem Öffnen seiner Fenster – hat er sich geholfen.
Als meine Tochter starb hat sich ihre Schwester aus der Abwärtsspirale der Traurigkeit befreit, indem sie sich sagte: ich bin so dankbar, dass ich 30 Jahre lang so eine tolle Schwester hatte. Dankbarkeit öffnete die Fenster.
Bist du ein Haus mit offenen Fenstern bleibt nichts hängen.
Prabhasa Dharma Roshi sagte öfter: wenn keiner Zuhause ist, kann auch kein Paket abgegeben werden.
Bist du verletzt wegen einer dummen Bemerkung, war offensichtlich einer Zuhause. Falls bei dir noch einer Zuhause ist, kannst du ja damit anfangen, innezuhalten und dich zu fragen, ob du das Paket annehmen möchtest. Frag dich ehrlich, ob es etwas mit dir zu tun hat oder nicht. Wenn ja, nimm es und arbeite daran, wenn nein, weise es zurück. Meistens ist es etwas dazwischen.
Wenn Meister Zuigan sich gerufen hat, hat er nicht Zuigan gerufen, sondern Meister. Er hat etwas Größeres angerufen als sein gewöhnliches Bewusstsein.
Durch die Erfahrung der Erleuchtung, die Erfahrung deines Wahren Selbst weißt du, dass du selbst Buddha bist. Das wird das Bewusstsein der reinen und klaren Wesensnatur genannt, der grenzenlose Bewusstseinsozean. Unsere sechs Sinne, unser Ichbewusstsein, auch das Speicherbewusstsein sind nur die Wellen auf diesem Ozean.
Dieser grenzenlose Bewusstseinsozean ist das Größere, mit dem Zuigan sich verbindet. Dieses Bewusstsein kennt keine Unterscheidungen.
Äußerlich bist du nichts Besonderes. Was du tust ist nichts Besonderes. Du kochst, wäscht, arbeitest im Garten oder Büro. Im Zustand von Samadhi gibt es kein angenehm oder unangenehm.
Ein schönes Beispiel dafür ist das folgende Koan: Ein Mönch fragte Joshu in allem Ernst: „Gerade bin ich in dieses Kloster eingetreten. Ich ersuche euch, Meister, gebt mir bitte Unterweisung!“ Joshu fragte: „Hast du schon deinen Reisbrei gegessen?“ Der Mönch antwortete: „Ja, das habe ich.“ Joshu sagte: „Dann wasche deine Essschalen.“ Da erlangte der Mönch eine gewisse Erleuchtung.
In den Gelübden, die wir annehmen, wenn wir uns entschließen, den buddhistischen Weg zu gehen, steht in unserer Tradition als erster Satz:
Das Wahre Selbst ist klar und offenbar.
Gehen wir diesen Weg – zusammen. Jeder Tag ist dafür ein guter Tag.
(Vortrag Gosesshin Juni 2021)