Nach Hause gehen
Teisho von Tetsue Roshi am ersten Tag eines Go-Sesshin
Wenn es jemals an der Zeit war, intensiver über das Zuhause Sein nachzudenken, dann wohl in dieser Zeit. Viele von uns bleiben zu Hause oder gehen nur kurz nach draußen. Dann kannst du schätzen lernen, dass es frische Luft gibt, dass du spazieren gehen oder Rad fahren kannst.
Im Englischen gibt es die Redensart, „you can make your house into a home“ – du kannst dein Haus zu einem Zuhause machen. Prabhasa Dharma Zenji, Jiun Roshis und meine Zen-Lehrerin, hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Going home“ – Nach Hause gehen.
Was meint Prabhasa Dharma Zenji mit „Nach Hause gehen“? In der Einleitung des Buches schreibt sie:
„Zen ist nicht etwas, das man begreifen kann, man kann es nur erfahren. Zen ist das Leben selbst: Nicht etwas, worauf du dich verstehst, sondern was du lebst. Zen zu leben bedeutet, jeden Augenblick ganz und gar zu leben.“
Sie betont hier, wie wichtig es für das Praktizieren von Zen ist, Zen in unserem Leben zum Ausdruck zu bringen und dadurch nach Hause zu kommen. Das geschieht, wenn Geist, Körper und Atem im Einklang miteinander sind.
Das ist keine einfache Aufgabe in einem Sesshin, in dem wir so viele Anweisungen bekommen haben. Hände desinfizieren, eineinhalb Meter Abstand halten, still sitzen ohne sich zu bewegen, die Aufmerksamkeit auf Atem, Geist und Körper halten. Und doch, sagt Prabhasa Dharma Roshi, findest du ohne diese Anstrengung nicht zu innerem Frieden, wahrem Glück und zur Befreiung von Angst.
„Die alten Weisen verglichen die Aktivität unseres ruhelosen Geistes mit Wellen auf dem Meer des Geistes. Wenn die mentalen Wellen von Gefühlen und Gedanken zur Ruhe gekommen sind, erscheint der wahre Geist, rein und ruhig. Die Wirklichkeit wird in ihrer So-Heit gesehen (im englischen: suchness). Die ‚Jetzt-Heit‘ und die ‚So-Heit‘ des Selbst erscheinen spontan. Leben und Tod werden als ein gleichzeitiges Geschehen aufgefasst.
Diese Essenz des Geistes ist ganz und gar ruhig und friedlich, still und gelassen. Er besitzt keine Eigenschaften von Werden, geht aber dennoch bei dem von Moment zu Moment sich vollziehenden Entstehen und Vergehen der Erscheinungen dauerhaft und nicht vom Willen gesteuert mit, ohne davon gestört zu werden. Ruhig und dennoch frei sich bewegend, sich seiner Selbst nicht bewusst, ein Ganzes. Ohne Unterschiede zu machen, ist diese Essenz gleichzeitig auf jede mögliche Art und Weise wirksam und in der Lage, alles wahrzunehmen.“
Dies ist eine tiefe Wahrheit, die Prabhasa Dharma hier zum Ausdruck bringt. Es sind wunderbare Worte, die uns zum Üben anspornen, damit wir entdecken, was unser wahres Zuhause ist.
Was brauchen wir, um ein Corona-Sesshin zu machen? Womöglich ist Disziplin das erste, was uns in den Sinn kommt. Wenn du nach der Wurzel des Wortes suchst, findest du Erklärungen, die auf die Lehre von Wissenschaftszweigen verweisen und auf Selbstkasteiung in der Welt der Klöster. Mit dem Wort Disziplin assoziieren wir oft eine Atmosphäre von Härte. Wir denken an Sätze wie „Ich muss dies tun, ich muss das tun, so gehört es sich.“ Wenn es aber nicht gelingt, kommen allerlei negative Gedanken auf, in denen wir uns selbst beurteilen und verurteilen, in denen wir sehr kritisch mit uns selbst und mit anderen sind. So verfehlt Disziplin jedoch ihr Ziel.
Das Wort Disziplin hängt zusammen mit discipel, student, leerling (deutsch: Schüler*in, Lerner*in) und hat also mit Lernen wollen, offen und neugierig sein zu tun. Es erscheint mir wichtig, neben Disziplin auch den Qualitäten Freundlichkeit und Sanftmut Raum zu geben. Freundlichkeit und Milde haben mit Raum zu tun, und somit mit Flexibilität. In einem Corona-Sesshin mit eineinhalb Meter Abstand sind wir uns stets genau dessen bewusst, wo unser eigener Körper ist und wo der Körper der anderen, und zwar ohne, dass wir einander anzuschauen brauchen.
Diese Flexibilität, dieser Raum ist sehr wichtig. Es ist wie ein Tanz. Disziplin und Flexibilität bleiben im Gleichgewicht. Es ist wichtig, Raum zu geben, denn ohne Raum kannst du nicht tanzen. Solches Raum-Geben erfordert Sanftmut und Freundlichkeit von uns. Und das verlangt von uns, jedes Mal neu zu beginnen, jeden Augenblick neu zu beginnen. Es spielt überhaupt keine Rolle, wie lange oder wie kurz du Zazen geübt hast. Das Wesentliche ist das Beginnen. Das gilt für jeden und jede, die hier sitzt, auch für mich. Das Wesentliche ist zu beginnen, jetzt.
Suzuki Roshi hat eines seiner Bücher betitelt: „Zen mind, beginners mind“. (Zu Deutsch: Zen Geist, Anfänger Geist.) Es geht dort um die Essenz unserer Übung. Wie wirst du das heute zum Ausdruck bringen? Wie wirst du heute mit Disziplin und Flexibilität tanzen? Wie wirst du heute, bei dir zu Hause, deinem Körper und Geist Sanftmut, Milde und Freundlichkeit Raum geben? Du bist die und der einzige, die das zum Ausdruck bringen kann. Wie machst du das?
Ich wünsche euch einen sehr schönen Tag.
(aus dem Niederländischen übersetzt von Doris Behrens)
Quelle: Naar huis gaan, ZenLeven Herbst 2020