Im Februar 2019 schloss Zen-Lehrerin Marjolein Kyosei Verboom nach eineinhalb Jahren ihr Achtsamkeitstraining am ‚Radbour Universitair Medisch Centrum voor Mindfulness‘ ab. Während der Ausbildung wurde regelmäßig über „die Hindernisse“ gesprochen, vor allem in den Seminaren über den buddhistischen Hintergrund von Achtsamkeit. Dabei stellte sie fest, dass sie in all den Jahren bei Zen nicht so oft über Hindernisse auf dem buddhistischen Pfad hatte sprechen hören wie in diesen eineinhalb Jahren. Sie beschloss, dieses Phänomen einmal näher zu untersuchen und schrieb ihre Abschlussarbeit darüber. Für Zenleven hat sie diese zu folgendem Artikel überarbeitet.
Hindernisse sind keine Hindernisse, und deshalb werden sie Hindernisse genannt.
Hindernisse
1991 lernte ich Zen-Meisterin Prabhasa Dharma Roshi kennen. Seitdem übe ich Zen. Ich fing damals mit Zen an, einerseits aus Faszination und andererseits, weil ich unter Spannungen und Ängsten litt, die mich belasteten. In dieser Zeit schien mir Zen eine Methode zu sein, um diese loszuwerden und Ruhe und Glück zu finden. Nach ‚Van Dale‘ (Wörterbuch; Anm. d. Übers.) bedeutet das Wort ‚Hindernis‘ Behinderung oder Störung, etwas, was eine Weiterentwicklung behindert oder etwas, das Ärger bereitet. Genauso empfand ich damals meine nervösen Gefühle und Gedanken.
Das Achtsamkeitstraining Mindfulness Based Stress Reduction(MBSR) mit acht Terminen ist ein Übungsprogramm, welches aus Wahrnehmungsübungen, Yoga und Gruppengesprächen besteht. Die Wahrnehmungsübungen beruhen auf den Anweisungen des Satipatthana-Sutra.
Auf dem Weg der Achtsamkeit gibt es viele Hindernisse, hieß es. In der buddhistischen Literatur, die wir während der Ausbildung lesen sollten und in dem Unterricht der buddhistischen Lehrer*innen Akincano und Christina Feldman wurde großes Augenmerk auf die fünf Hindernisse gelegt, die im Satipatthana-Sutra folgendermaßen genannt werden: sinnliches Begehren, Abneigung, Schläfrigkeit und Trägheit, Ruhelosigkeit und Grübeln sowie Zweifel.
Manche Abhandlungen sprechen sogar von zehn Hindernissen, als „Heer von Mara“, teuflischen Hürden, die einer tugendhaften und gesunden Existenz im Weg stehen. Es wurde beschrieben, wie man die Hindernisse überwinden kann, damit der Meditationsprozess nicht beeinträchtigt wird. Es gibt eine gewisse Kriegsrhetorik: Mara als Mörder und Zerstörer, Heere, die besiegt, überwältigt oder annektiert werden müssen. Kurzum: ein Hindernis muss überwunden werden, um den Meditationsprozess wieder fortsetzen zu können.
Viele Menschen machen ein Achtsamkeitstraining, weil sie an Stress, chronischen Schmerzen oder Depressionen leiden. Sie erleben diese – so wie ich damals auch – als Vereitelung des Glücks und hoffen, dass die Hindernisse verschwinden oder an Intensität verlieren werden. Man will aus der aktuellen Situation in einen Idealzustand gelangen, man sieht das Hindernis und muss einen (Angriffs)-plan schmieden, um es aus dem Weg zu räumen. Wenn man frei weiterkommen möchte, steht ein Hindernis im Weg.
Hindernisse sind keine Hindernisse
Christina Feldman schlägt vor, das Wort „Hindernis“ durch „Gewohnheitsmuster“ zu ersetzen. Es geht um wiederkehrende Muster von negativen Gedanken oder Stimmungen. Die Muster werden angetriggert durch unangenehme, schwierige oder ungewohnte Umstände in unserem Leben: Wir verlieren uns in endlosen Gedankenschleifen und Geschichten und nehmen nicht mehr wahr, wie es wirklich ist. Die Gewohnheitsmuster haben bei ihr dieselben Namen: sinnliches Begehren, Abneigung, Dumpfheit/Stumpfheit, Ruhelosigkeit/Besorgnis und skeptischer Zweifel. Es sind mentale Reaktionen, die einen großen Einfluss auf Körper, Stimmung und Verhalten haben. Oft haben die Menschen ein „Lieblingsmuster“, aber jede/r kennt alle fünf in größerem oder kleinerem Ausmaß. Die Aktivierung eines solchen Musters kann dazu führen, dass wir völlig vergessen, welche Intentionen, welche Einsichten wir hatten und welche (Hilfs)-quellen uns zur Verfügung stehen. Wir stecken fest und vergessen, aufmerksam zu sein. Damit kommt Christina Feldman in die Nähe des Diamant-Sutras, in dem Buddha regelmäßig folgende Formulierung gebraucht: A ist nicht A, deshalb wird es A genannt. Hindernisse sind keine Hindernisse, deshalb werden sie Hindernisse genannt. Auf den ersten Blick scheint diese Aussage unlogisch zu sein, bei näherer Betrachtung besagt sie etwas wie: ein Hindernis als ein unveränderliches, statisches Phänomen anzusehen, ist unzutreffend. Alle Phänomene verändern sich ununterbrochen und sind von Umständen abhängig. Nur unter der Bedingung, dass du das vollkommen durchschaust, kannst du ein Phänomen als Hindernis bezeichnen. Nur dann siehst du es auf die richtige Weise: als einen Prozess, der nicht in sich selbst besteht, sondern von allen anderen Phänomenen beeinflusst wird. Es ist gerade das ‚Weg-haben-wollen‘, die Abneigung, die ein Hindernis zum Hindernis macht. Ein Hindernis ist kein Hindernis.
Das Revolutionäre von Achtsamkeit ist die Tatsache, dass man lernen kann, sich unangenehmen Erfahrungen mit leichter Neugier, mit Freundlichkeit und einer einladenden Haltung anzunähern. In der MBSR lernt man, alle auftretenden Empfindungen zu spüren, als Übung der Aufmerksamkeit von Moment zu Moment. Eigentlich ist es egal, worin sie bestehen: jedem Gefühl, jedem Gedanken, jeder sinnlichen, körperlichen Wahrnehmung kannst du mit derselben interessierten, freundlichen Achtsamkeit begegnen. „Wenn Ruhelosigkeit –und –Grübeln präsent sind, weiß er, ‚Ruhelosigkeit – und – Grübeln sind in mir‘; wenn nicht Ruhelosigkeit – und – Grübeln präsent sind, weiß er, ‚Ruhelosigkeit – und – Grübeln sind nicht in mir.“ Das ist der Anfang, um zu klarer Erkenntnis und andauernder Aufmerksamkeit zu gelangen, sagt das Satipatthana-Sutra. Verlangen, Ängste, Widerstand, Schläfrigkeit oder Zweifel sind genau das (notwendige) Material, mit dem man trainiert. Nichts an der Hand, die Übung besteht in dem Bewusstwerden von Weglaufen, ohne dies zu beurteilen, und in dem wieder zum Atem, zum Körper oder zum Koan Zurückkehren. Nichts hält auf. Nichts gerät in Gefahr. Hindernisse sind keine Hindernisse.
Vor einigen Jahren wurde mir auf einmal klar, dass „meine Angst“ ihrem Wesen nach kein anderes Phänomen ist als der Vogel, den ich draußen singen höre. Beides sind vorübergehende Phänomene, derer man sich in einem weiten Raum von Gewahr-sein bewusst werden kann. Ich weiß noch, dass ich Jiun Roshi während der Frage — und – Antwort –Periode des Sesshins fragte: „Gibt es eigentlich so etwas wie Hindernisse?“ – „Gute Frage!“, war ihre Antwort.
Und darum werden sie Hindernisse genannt
Es folgt hier jedoch noch nicht die Schlussfolgerung dieser Geschichte. Das Satipatthana-Sutra geht noch weiter: „Er weiß auch, wie noch nicht entstandene Ruhelosigkeit – und – Grübeln entstehen kann, wie entstandene Ruhelosigkeit – und – Grübeln aufgehoben werden kann und wie es erneut zu Ruhelosigkeit – und – Grübeln kommen kann.“ Es sieht so aus, als werde mehr von uns verlangt als nur das Bewusstsein, dass ein Hindernis als Prozess oder ein Gewohnheitsmuster vorhanden ist. Offenbar ist es auch möglich, zu erkennen, wie ein Hindernis entsteht und wie man verhindern kann, dass es sich immer wieder meldet.
Ein Hindernis entsteht unter anderem, indem man „auf Autopilot“ lebt, sich in Gedanken verstrickt, unangenehme Erfahrungen weghaben will, die Dinge anders haben will als sie sind, eine harte oder unfreundliche Haltung gegen andere oder sich selbst einnimmt. Ein Hindernis ist kein Hindernis im Sinne einer real bestehenden Hürde, sondern indem man das oben Genannte leidenschaftlich verfolgt. Wir machen eine Geschichte, wiederholen sie immer wieder, halten die Geschichte für die Wahrheit und lassen uns davon gefangen nehmen. Christina Feldman verdeutlicht, wie die fünf Gewohnheitsmuster unsere störenden (Grund)-Überzeugungen verstärken: dass wir in bestimmten Momenten fest davon überzeugt sein können, das wir „misslungen“, „nicht gut genug“ oder „wertlos“ sind. Diese negativen Muster haben sich oftmals so oft wiederholt, dass wir sie als inhärenten Teil unserer Identität, unseres eigenen Charakters erleben. Womit wir uns viel beschäftigen, bestimmt auf die Dauer, wie wir auf die Welt schauen. Es entsteht ein geschlossener feedback loop, eine Falle, in der wir feststecken, ohne uns dessen bewusst zu sein. Die tief verwurzelten Muster hindern uns daran, frei zu leben, in (schwierigen) Situationen weise handeln zu können und Achtung vor anderen zu haben. Und deshalb werden sie Hindernisse genannt.
Durch Übung können wir entdecken, dass Wahrheiten sich wandeln können, dass der Schmerz auf deiner Brust nicht immer derselbe ist, sondern dass sich sein Ort und seine Intensität verändern kann, dass ein schnelles Atemholen nicht immer gleich schnell ist, dass Gedanken sich zwar gern in den gleichen Bahnen bewegen, aber auch unterbrochen oder freundlich und entschlossen umgelenkt werden können, dass Emotionen Wellenbewegungen kennen, dass du bewusst deine Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes richten und einen Beschluss fassen kannst. Auf diese Weise können wir erleben, wie entstandene Ruhelosigkeit – und – Grübeln aufgehoben werden können und dass sich bestenfalls ein erneutes Entstehen von Ruhelosigkeit – und – Grübeln verhindern lässt.
Die MBSR-Teilnehmer*innen erleben oft zum ersten Mal in ihrem Leben, dass es möglich ist, auf ein stressiges Ereignis anders als sofort mit Kämpfen, Flüchten oder Gefrieren zu reagieren. Sie erfahren, dass es möglich ist, zuerst abzuwarten und aufkommende Gedanken, Gefühle und körperliche Empfindungen mit Ruhe und freundlichem Interesse wahrzunehmen.
Mögliche Antworten
Die Überschrift Hindernisse sind keine Hindernisse, und deshalb werden sie Hindernisse genannt verweist nicht nur auf das Diamant-Sutra, sondern auch auf meine eigenen Erfahrungen. Ich kenne selbst das Paradox, wie nervöses Grübeln einem die Luft zum Atmen nehmen kann, aber auch, wie es sich verändern und beeinflussen lassen kann. Mein Lieblingshindernis erscheint mir manchmal wie ein Geschenk. Es gibt mir die Motivation für die (zen)-buddhistische Übung, Verständnis für andere, Liebe, Wachheit und Weisheit. Hindernisse bilden guten Dünger im Garten eines wachen und engagierten Lebens. Calm and caring in the midst of it, wie Christina Feldman so schön sagt.
Es ist eine Form von Lebenskunst, sich nicht mit Gedanken, Gefühlen oder körperlichen Empfindungen zu identifizieren. Um freier von Sehnsüchten und Unzufriedenheit angesichts der Welt zu werden. Es gibt keine gerade Linie vom Hindernis zum Geschenk. Es gibt keinen Endpunkt. Die Kunst, „frei von Sehnsüchten und Unzufriedenheit“ zu sein, besteht darin, das Unangenehme nicht persönlich zu nehmen und das Leben mit einer gewissen Leichtigkeit so zu würdigen, wie es sich in jedem Moment gerade entfaltet. Dazu braucht es „eine Tasse Mut, ein Fass voll Liebe und einen Ozean von Geduld“.
„Voraussetzung ist, dass du nichts ablehnst, nichts festhältst, einfach präsent bist und davon überzeugt, dass ich hier sein kann, dass dies mein Platz ist. Von mir wird verlangt, genau diese Situation auf eine gesunde Art und Weise fortzusetzen. Das geht, auch wenn du im Vorfeld nicht weißt, wie.“ (Maurits Hogo Dienske)
Aus dem Niederländischen übersetzt von Doris Behrens
Quelle: Hindernissen zijn geen hindernissen en daarom worden ze hindernissen genoemd, ZenLeven Frühjahr 2020