An­spra­che vor Schüler*innen von Sri Swa­mi Sat­chi­d­anan­da zu San­ta Bar­ba­ra, am 29. De­zem­ber 1987. Die­se An­spra­che von Prab­ha­sa Dhar­ma Zen­ji stammt aus dem Buch Bud­dha ben je zelf, das 2006 bei Aso­ka er­schie­nen ist ( ISBN 90 5670 068 5). Das Buch ist zwar ver­grif­fen, kann aber noch über Noor­der Po­ort und über ei­ni­ge Web­shops be­zo­gen wer­den. Das Ur­he­ber­recht an der An­spra­che liegt bei Aso­ka; wir ver­öf­fent­li­chen sie hier mit de­ren Erlaubnis.

Dieser Augenblick ist ein Geschenk

Die­ses Retre­at hat ei­nen Na­men mit dop­pel­ter Be­deu­tung: „The Gol­den Pre­sent“, was so­wohl „Das gol­de­ne Ge­schenk“ wie auch „Die gol­de­ne Ge­gen­wart“ hei­ßen kann. Ist es ein Ge­schenk? Ist es ein gol­de­ner Au­gen­blick? Ein Au­gen­blick ist ein sehr va­ger Be­griff. Wie kön­nen wir wis­sen, was ein Au­gen­blick ist? Über wel­chen Au­gen­blick spre­chen wir? Wie lan­ge dau­ert ein Au­gen­blick? Wo kommt er her und wo geht er hin? Wie ent­steht er und wie ver­schwin­det er? Und: Ent­steht er ei­gent­lich wirk­lich und ver­schwin­det er auch wirk­lich wie­der? Ei­nes ist si­cher: Al­les ge­schieht doch stets in dem je­wei­li­gen Mo­ment, oder? Ob wir uns nun der Zu­kunft zu­wen­den oder über die Ver­gan­gen­heit nach­den­ken, wir tun das im­mer im je­wei­li­gen Mo­ment. Al­so gibt es in der Wirk­lich­keit we­der Ver­gan­gen­heit noch Zu­kunft. Die­se exis­tie­ren nur in un­se­rem den­ken­den Geist, bes­ser ge­sagt: in un­se­rem Bewusstsein.

Ihr wisst, dass ich von der Zen-bud­dhis­ti­schen Tra­di­ti­on her­kom­me. Wel­chem spi­ri­tu­el­len Weg ihr auch folgt, wann im­mer ihr nach des­sen Ent­ste­hen schaut, kommt ihr stets an den­sel­ben Ur­sprung: den Ur­sprung von al­lem. Der Zen-Weg ist der Weg zu­rück zur Quel­le. Zen be­deu­tet nichts an­de­res als ‚Me­di­ta­ti­on‘, al­ler­dings ei­ne be­son­de­re Form der Me­di­ta­ti­on. Im Zen ver­su­chen wir, die Ebe­ne des Be­wusst­seins zu rea­li­sie­ren, wo es noch kei­nen Un­ter­schied zwi­schen Ver­gan­gen­heit, Ge­gen­wart und Zu­kunft gibt. Die­ser Zu­stand ist all­zeit all­ge­gen­wär­tig. So­bald wir uns das be­wusst ma­chen, ent­steht ein Ge­fühl gro­ßer Er­leich­te­rung. Es be­freit uns von der Vor­stel­lung, dass wir et­was tun müs­sen, um dort­hin zu ge­lan­gen oder es zu bekommen.

Hast du je­mals ver­sucht, ei­nen Au­gen­blick fest­zu­hal­ten? Wahr­schein­lich ja. Wir ver­su­chen es stän­dig mit un­se­ren Ka­me­ras und an­de­ren tech­ni­schen Ge­rä­ten. Bud­dha hat ein­mal ge­sagt, dass das, was wir ei­nen Au­gen­blick nen­nen oder den Ver­lauf von Ge­burt und Tod, den 75. Teil ei­ner Se­kun­de dau­ert! Kannst du dir vor­stel­len, wie lang oder wie kurz das ist? Ei­nen Lid­schlag kannst du ei­nen Mo­ment, ei­nen Au­gen­blick nennen.

Kal­li­gra­fie von Prab­ha­sa Dhar­ma Zenji

Ein Zen-Meis­ter wan­der­te ein­mal mit sei­nem Schü­ler in den Ber­gen. Der Schü­ler wur­de spä­ter auch ein be­rühm­ter Zen-Meis­ter. Der Meis­ter hieß Ba­so und der Schü­ler Hya­ku­jo. Als sie ei­nem Weg auf ei­nem Berg­hang folg­ten, flog ei­ne Schar Wild­gän­se über sie. Meis­ter Ba­so schau­te sich zu Hya­ku­jo um und frag­te: „Wo sind sie hin­ge­flo­gen?“ Hya­ku­jo ant­wor­te­te: „Sie sind fort­ge­flo­gen, Meis­ter.“ Da fass­te Meis­ter Ba­so Hya­ku­jo bei der Na­se und dreh­te sie um. Hya­ku­jo schrie auf und Meis­ter Ba­so rief: “Wo sind sie JETZT!“

Wo bist du JETZT, in die­sem AUGENBLICK? Bist du in San­ta Bar­ba­ra? Bist du in Ca­sa de Ma­ria, sitzt du in die­ser Ka­pel­le? Wo seid ihr? Wel­chen die­ser Mo­men­te, seit ich durch die Tür ge­kom­men bin, be­zeich­nest du als du selbst?

Die meis­ten Men­schen ha­ben ei­nen oder zwei Vor­na­men und ei­nen Nach­na­men. Und dann ha­ben wir al­le noch die an­de­ren Na­men, die un­se­re Freun­de und un­se­re Fa­mi­lie uns ge­ben. Ich ha­be vie­le Na­men von mei­nen Schüler*innen be­kom­men – ich ken­ne sie nicht al­le. Aber je­den Au­gen­blick sind wir ein an­de­rer, je­den Mo­ment sind wir je­der an­de­re. Wenn ich über DIESEN Mo­ment spre­che, be­deu­tet das: hier, jetzt, so wie es ist. Aber dann ist er schon wie­der vor­bei. Um ihn zu fas­sen oder sich sei­ner be­wusst zu wer­den, müss­ten wir wei­ter in die Tie­fe ge­hen. Wir müss­ten ei­nen Be­wusst­seins­zu­stand er­rei­chen, in dem wir die schnell sich ver­än­dern­den, auf­ein­an­der fol­gen­den Au­gen­bli­cke er­le­ben und gleich­zei­tig den Raum, in dem sich nichts be­wegt. Wir sind in ei­nem Raum oh­ne Zeit und oh­ne Raum – auch wir, jetzt, hier! So­bald wir mit nichts be­schäf­tigt sind, al­les Er­ör­tern ein­ge­stellt ha­ben, al­les ein­fach ist für ei­nen ein­zi­gen Au­gen­blick, dann sind wir so­fort da. Wir fal­len mit dem Atem des Uni­ver­sums zu­sam­men, wo al­les ei­ne gro­ße Be­we­gung von ‚Ein­at­men und Aus­at­men‘ ist. Wir stei­gen und fal­len mit der ge­sam­ten Schöp­fung, und für ei­nen Au­gen­blick ver­schwin­den wir mit der gan­zen Schöp­fung. Von Mo­ment zu Mo­ment kom­men wir al­so aus dem All her­aus und keh­ren da­nach wie­der dort­hin zurück.

Es gibt ei­nen Zu­stand, den wir „das Tod­lo­se“ nen­nen. In sei­ner ma­ni­fes­ten Form ist dies je­doch die un­be­stän­di­ge, sich stän­dig ver­än­dern­de Welt der For­men. Be­stän­dig ist al­lein der Pro­zess. Die­sen Pro­zess nen­nen wir Dhar­ma oder auch das kos­mi­sche Ge­setz. Es bringt durch sich selbst die Ge­scheh­nis­se her­vor und löst sie wie­der auf. Es ist al­so ein wun­der­ba­rer Raum, wie ein ge­wal­ti­ger Mut­ter­leib, aus dem al­les her­vor­kommt und der al­les wie­der in sich auf­nimmt. Die­ses Al­les, das in ei­nem Au­gen­blick er­scheint, ist mein Selbst. Es ist dein Selbst, und ob­wohl hier mehr als hun­dert Köp­fe em­por­ra­gen, sind sie doch al­le die Köp­fe ei­nes Körpers.

Wenn wir al­so über DIESEN Au­gen­blick spre­chen, müs­sen wir uns in ei­nem Zu­stand von Ge­wahr­sein und von Wach­sein be­fin­den. In die­sem Zu­stand ab­so­lu­ten Ge­wahr­s­eins sind wir nichts an­de­res als der kos­mi­sche Pro­zess selbst. In ei­nem ein­zi­gen Au­gen­blick ent­hüllt uns die­ser Pro­zess blitz­ar­tig DIESEN Mo­ment, so wie er ist. Nicht so, wie ich gern hät­te, dass er ist, son­dern so, wie er ist. Un­mit­tel­bar da­nach kehrt die­ses Be­wusst­sein zu sei­nem Ur­sprung zu­rück, wo wir mit al­lem ver­bun­den sind, und das ist ein Mo­ment von Nicht-Wis­sen, von voll­kom­me­ner Ru­he und Frie­den. Dies ist un­se­re wah­re Na­tur, und dort gibt es kei­nen Un­ter­schied zwi­schen Form und Lee­re, Ru­he und Ak­ti­vi­tät. Da­her sa­gen wir im Zen: „Wäh­rend wir nicht ak­tiv sind, sind wir ak­tiv; und wäh­rend wir ak­tiv sind, sind wir nicht ak­tiv oder auch im Ru­he­zu­stand.“ Wenn wir ganz und gar still sind, wie bei der Me­di­ta­ti­on, kön­nen wir die dy­na­mi­sche, kos­mi­sche Ak­ti­vi­tät er­fah­ren, die wir in Wirk­lich­keit sind.

Schließ­lich gibt es in der ab­so­lu­ten Wirk­lich­keit we­der Raum noch Zeit. Wir kön­nen al­so nie­mals ver­lo­ren ge­hen. Wir wis­sen im­mer, wo wir sind, wo­her wir kom­men und wo­hin wir ge­hen, in je­dem Au­gen­blick. Weil Hya­ku­jo noch nicht so wach war, muss­te der Meis­ter ihn an der Na­se fas­sen und sie um­dre­hen, um ihm un­mit­tel­bar be­greif­lich zu ma­chen, wo er war und wo die Gän­se wa­ren. Ver­stehst du?

Je tie­fer un­ser Ver­ständ­nis der Ver­gäng­lich­keit und der Ver­än­de­rung ist, um­so mehr sind wir satt und zu­frie­den mit dem, was wir ha­ben und was wir sind. Wenn du ei­nen Mo­ment lang still bist und tief in dich selbst nach in­nen schaust, bis an die Wur­zel, dann wirst du un­mit­tel­bar den voll­kom­me­nen Geis­tes­frie­den, voll­kom­me­ne Zu­frie­den­heit er­fah­ren. In die­sem Au­gen­blick hat das Su­chen nach et­was an­de­rem auf­ge­hört. In die­sem Au­gen­blick ist es voll­kom­men, nicht wahr? Ma­che al­so wei­ter so. ES ist im­mer voll­kom­men! Manch­mal bin ich auch nicht so voll­kom­men; wenn ich den­ke, be­geh­re und mich vom Selbst abwende.

Er­ken­ne die So-heit die­ses Mo­ments, jetzt gleich, be­vor der be­geh­ren­de, den­ken­de, ver­lan­gen­de Geist kommt und sagt: „Nun ja, aber ich möch­te das an­ders ha­ben, wär­mer, käl­ter, mehr Son­ne, ich möch­te mehr Geld ha­ben.“ Das ist un­ser täg­li­ches Su­tra. Siehst du, wie wir über uns selbst la­chen kön­nen? Wenn wir auf uns selbst schau­en und uns da­bei er­wi­schen, müs­sen wir la­chen. In dem Mo­ment bist du schon frei. Du bist be­freit, und das ist al­les, was du brauchst. Nur DIESER Au­gen­blick, es im­mer IMMER nur DIESER Augenblick.

Der ja­pa­ni­sche Zen-Meis­ter Do­gen fass­te im fol­gen­den Ge­dicht den Be­griff Ver­gäng­lich­keit in Worte:

Der Mond re­flek­tiert im Tautropfen,
ge­schüt­telt vom Schna­bel des Kranichs.

De­sign für Por­zel­lan­tel­ler — En­de 19. Jahrhundert

In ei­nem Au­gen­blick, ei­nem Be­wusst­seins­blitz, um­fasst Do­gen die­ses ge­sam­te gro­ße, kos­mi­sche Ge­sche­hen. Er ent­springt ei­nem Geist, der die­sen Mo­ment be­wusst er­lebt. Über die­sen Geis­tes­zu­stand ver­fü­gen wir al­le. Er ist nichts Be­son­de­res, nicht ein­zel­nen Men­schen vor­be­hal­ten. Aber ehe wir voll­ends er­wacht sind, be­grei­fen wir es nur, wenn wir es von an­de­ren hö­ren oder in solch ei­nem schö­nen Ge­dicht le­sen. Bei Me­di­ta­ti­ons-Retre­ats kom­men wir dem Zu­stands des Wach-seins ein we­nig nä­her oder er­rei­chen ihn so­gar. Um zu die­ser Wirk­lich­keit zu er­wa­chen, die voll­stän­dig und voll­endet ist, und um selbst zu so ei­nem Ge­dicht zu werden.

In zwei Ta­gen be­ginnt das neue Jahr. Viel­leicht brauchst du zum ers­ten Mal im Le­ben kei­ne gu­ten Vor­sät­ze für die­ses Jahr zu fas­sen. Da­mit brauchst du dich nicht mehr zu be­las­ten. Ma­che das al­so bit­te auch nicht, denn wenn du es trotz­dem machst, ver­passt du es wie­der. Um DIESEN Au­gen­blick zu er­fas­sen, müs­sen wir un­se­ren Geist frei ma­chen, un­ab­hän­gig, ganz und gar prä­sent und spring­le­ben­dig! Wirk­lich le­ben schließt ster­ben mit ein. Nie­mand hört das gern, aber so ist es nun ein­mal. Wir brau­chen es frei­lich nicht di­rekt ster­ben zu nen­nen, du kannst auch „ver­schwin­den“ sa­gen, be­freit wer­den, dich frei be­we­gen von die­sem Au­gen­blick zum nächs­ten. Es ist wie beim Schal­ten im Au­to: Wenn du vom drit­ten in den vier­ten Gang schal­ten willst, musst du zu­erst in den Leer­lauf. Du be­freist gleich­sam den drit­ten Gang von sei­nem Drit­ter Gang-Sein. In­dem er zu­erst frei ge­macht wird, kann er da­nach zum 4. Gang wer­den. Wir se­hen die Null-Stel­lung , das Nicht-Sein, das Nicht-Ge­sche­hen nicht. Und doch müs­sen wir uns dar­an ge­wöh­nen: Es gibt so ein Nichts, ei­ne Nicht-Form, ei­ne Leerheit.

Die­ses Nicht-Sein, die­se Lee­re müs­sen wir nicht zum Ob­jekt ma­chen. Wenn wir es den­noch tun, ist es kei­ne Lee­re mehr. Leer­heit an sich gibt es nicht; sie kann le­dig­lich durch Form er­fah­ren wer­den. Der letzt­end­li­che Mo­dus von Form ist Nicht-Form, und da­her kön­nen die Din­ge sich ver­än­dern, da­her ist je­der Au­gen­blick ein ganz neu­es, fri­sches und atem­be­rau­ben­des Ent­ste­hen des Uni­ver­sums. Je­der Au­gen­blick ist ein kos­mi­sches Ge­sche­hen, das nie und nim­mer zu­rück­keh­ren kann – nicht auf die­sel­be Art und Wei­se. Aber wir müs­sen auf­pas­sen, dass wir die­sen gan­zen Pro­zess nicht nach au­ßer­halb un­se­res Selbst pro­ji­zie­ren. Wir müs­sen uns des­sen be­wusst sein, dass dies die Ak­ti­vi­tät un­se­res Be­wusst­seins ist, oder, wenn du so willst, des Selbst, des ur­sprüng­li­chen Geis­tes, die Bud­dha-Na­tur, die Erleuchtung.

Ei­nes Ta­ges kam ein Schü­ler zu Meis­ter Hya­ku­jo und frag­te: „ Meis­ter, was ist das Er­ha­bens­te und Wun­der­bars­te auf die­ser Welt?“ – Hya­ku­jo ant­wor­te­te: „Al­lein zu sit­zen hier auf die­sem Berg.“ Er sprach nur über DEN Mo­ment, in dem der Mönch ihm die Fra­ge stell­te. Ver­ste­he Hya­ku­jos Ant­wort nicht falsch, sie be­deu­tet nicht: „Oh, ich bin ein Ein­sied­ler, hier ist mein Zu­hau­se, weit weg von der Welt und ich bin sehr glücklich.“

Wie in Chi­na und auch den in meis­ten an­de­ren Län­dern üb­lich wur­de Hya­ku­jo nach dem Berg be­nannt, auf dem sein Klos­ter stand. Hya­ku be­deu­tet “hun­dert“, und „jo“ ist ei­ne Grö­ßen­an­ga­be. Du kannst es auch über­set­zen mit „höchs­ter Gip­fel“. Jetzt bist du hier und jetzt musst du dei­nen höchs­ten Gip­fel er­ken­nen oder dei­nen höchs­ten Gip­fel in dir selbst. Ob du nun hier im Zen­do sitzt oder im Ess­raum oder auf der Toi­let­te, du sitzt im­mer auf dem höchs­ten Gip­fel. Du hast im­mer ei­ne Gip­fel­erfah­rung! Das be­deu­tet je­doch nicht, sich in Emo­tio­nen, Lau­nen und Pro­ble­men zu verlieren.

Das Uni­ver­sum hat kei­ne Pro­ble­me, die Wol­ken ha­ben kei­ne Pro­ble­me, Vö­gel und Blu­men ha­ben kei­ne Pro­ble­me. Nur wir Men­schen ha­ben Pro­ble­me. War­um? Weil wir glau­ben, dass wir Pro­ble­me ha­ben! Al­so schlie­ßen wir dar­aus, dass wir nur mit dem Den­ken auf­hö­ren müs­sen. Aber ach! Das ist un­mög­lich! Ver­su­che es erst gar nicht! Las­se dei­ne Ge­dan­ken ein­fach wie die Wol­ken am Him­mel zie­hen. Nimm sie wahr, las­se sie zie­hen und blei­be bei dei­nem Atem an Ort und Stel­le, statt mit dei­nen Emo­tio­nen und Ge­füh­len weg­zu­lau­fen. Und wenn du über et­was nach­den­ken musst, dann blei­be bei dei­nen Ge­dan­ken. Wenn du isst, blei­be beim Es­sen, ein­fach nur es­sen. Den­ke nicht dar­über nach. Dann wirst du schnell nur das DIESES er­fah­ren. Sa­ge im­mer wie­der zu dir selbst: „Nur das, nur jetzt.“ Sei dir des­sen be­wusst, dass du gehst, oh­ne dar­über nach­zu­den­ken. So kommst du zum höchs­ten Gip­fel. Viel­leicht wirst du Prä­si­dent der Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka! Nur das, und wenn du Prä­si­dent bist, ist es auch nur das! Ich hof­fe, dass du das tust, denn wir ha­ben ei­nen gu­ten Prä­si­den­ten nötig!

Ge­nie­ße die­sen Mo­ment: es ist ganz und gar dei­ner. Mit all sei­ner Pracht und sei­ner Herr­lich­keit, mit all sei­nem Elend und Schmerz, auch das ist ganz und gar de­ins. Wenn wir die­sen Mo­ment voll und ganz le­ben, oh­ne Ein­schrän­kun­gen und oh­ne et­was von uns selbst zu­rück­zu­hal­ten, dann sind wir be­reit, voll­ends mit die­sem Mo­ment zu ver­schwin­den, wenn er vor­über geht, und um wie­der­ge­bo­ren zu wer­den mit dem fol­gen­den Mo­ment. Da­zu ist noch et­was an­de­res er­for­der­lich, und zwar: kei­ne Aus­wahl tref­fen. Wenn wir mit dem Aus­wäh­len lieb­äu­geln, lieb­äu­geln wir mit dem Ver­lie­ren. Wir müs­sen uns dar­in üben, kei­ne Aus­wahl zu tref­fen und ler­nen, mit dem So-Sein, mit der So-Be­schaf­fen­heit der Din­ge zu le­ben, dann wer­den wir glück­lich sein mit dem, was ist. Das ist un­se­re Ret­tung aus dem Elend, das wir uns mit un­se­rem von Be­gier­den be­stimm­ten Le­ben selbst schaf­fen. Meis­ter Rin­zai pfleg­te zu sei­nen Mön­chen zu sa­gen: „Wor­an fehlt es dir in die­sem Mo­ment? Das ein­zi­ge, was dir fehlt, ist Selbst­ver­trau­en.“ Den gan­zen Tag lang be­wegt sich ein frei­er Mensch von in­nen nach au­ßen und von au­ßen nach in­nen mit­tels der sechs To­re sei­ner Sin­ne: Au­gen, Oh­ren, Na­se, Zun­ge, Kör­per und Be­wusst­sein. Das ist un­se­re wah­re Na­tur: man kann auf die­se Sei­te schau­en, man kann auf je­ne Sei­te schau­en, man kann die­ses oder je­nes tun. Die wah­re Na­tur geht nie zur Nei­ge. Du kannst „sie“ nicht auf­brau­chen, denn du bist „sie“ selbst, auch jetzt. Selbst wenn du nicht ganz ver­stehst, wo wir sie ver­las­sen ha­ben, dann bist du im­mer noch „sie“, voll und ganz, zu hun­dert Pro­zent. Es man­gelt dir an nichts.

Hya­ku­jo sag­te: „Das Wun­der­bars­te auf die­ser Welt ist, ganz al­lein auf die­sem Berg zu sit­zen.“ Wenn du das jetzt, in die­sem Mo­ment, er­rei­chen kannst, dann hast du, viel­leicht für ei­nen Mo­ment lang, die höchs­te Wahr­heit er­reicht, die höchs­te Wirk­lich­keit. Wäh­rend ich hier auf dem Gip­fel die­ses Ber­ges in völ­li­ger Frei­heit sit­ze, frei von al­len Sor­gen, bin ich gleich­zei­tig die Frau von 56 Jah­ren, mit grau­em Haar, mit die­sen Klei­dern am Leib und so wei­ter. Es gibt kei­nen Un­ter­schied mehr zwi­schen dem Hei­li­gen und dem Ir­di­schen. Siehst du das? Das ist eins! Es gibt kei­ner­lei Un­ter­schei­dung, kei­nen Kon­flikt; es gibt nichts zu er­rei­chen, nichts zu rei­ni­gen. Die Schü­ler Je­su ka­men ein­mal zu ihm und sag­ten: „Meis­ter, lasst uns heu­te fas­ten und be­ten.“ Und Je­sus ant­wor­te­te: „Was ha­be ich ge­tan, dass ich fas­ten und be­ten müss­te?“ [2] Le­be je­den Mo­ment so, dass du nicht um an­de­re, bes­se­re Mo­men­te zu bit­ten, nicht zu fas­ten und zu be­reu­en brauchst.

Der Punkt ist, dass wir nicht feh­len kön­nen. Ein Geist, der leer ist und der kei­ne Vor­stel­lun­gen hat, kann nicht feh­len. Nichts ist si­che­rer als ein lee­rer Geist, nichts ist si­che­rer als ein Nie­mand! So wie der Bud­dha ein­mal ge­sagt hat: „Wo nie­mand zu Hau­se ist, kannst du kein Pa­ket ab­ge­ben.“ Es geht um un­ser Ego. Wenn wir ein Ego ha­ben, wer­den al­ler­lei Din­ge auf uns zu­kom­men und hän­gen blei­ben. Wir hän­gen fest und ha­ben DIESEN Mo­ment ver­säumt. Dann ha­ben wir uns selbst in Ver­wir­rung ge­bracht. Es gibt kei­nen an­de­ren, der uns in die Ir­re führt. Nie­mand kann uns her­ab­set­zen oder in den Him­mel he­ben, weil der ur­sprüng­li­che Geis­tes­zu­stand von sol­chen Din­gen frei ist. Wenn du sagst: „O, was bist du für ein Idi­ot!“ Was hörst du dann? „Oh, was bist du für ein Idi­ot!“ Es ist ein­fach ein Echo. Es hat kei­ne Be­deu­tung. Du gibst ihm ei­ne Be­deu­tung. Das glei­che gilt, wenn man sagt: „Oh mein Lieb­ling!“ Das klingt ge­nau­so in mei­nen Oh­ren: die­sel­be Stim­me, der­sel­be Geist. Wenn du al­so tief ge­nug gehst, sind al­le Idio­ten dei­ne Lieb­lin­ge! Der ur­sprüng­li­che Zu­stand des Geis­tes steht über jeg­li­cher Dua­li­tät von Voll­kom­men­heit und Un­voll­kom­men­heit. Der ur­sprüng­li­che Zu­stand ist jetzt in die­sem Mo­ment prä­sent. Ihr be­sitzt ihn al­le. Macht bit­te von ihm Gebrauch.

Läch­le, läch­le, je­den Tag; das ist der An­fang. Läch­le mor­gens so wie du dei­ne Ge­sichts­creme auf­legst. Zau­be­re ein Lä­cheln auf dein Ge­sicht, und schon fühlst du dich ein Stück bes­ser. Du weißt ja, dass du ein Bud­dha bist, und Bud­dhas lä­cheln. Auch der ers­te, dem du be­geg­nest, ist ein Bud­dha. Es spielt kei­ne Rol­le, wel­che Ei­gen­hei­ten die Per­son hat, es spielt auch kei­ne Rol­le, in wel­cher Stim­mung er oder sie ist. Du lässt dich nicht von Stim­mun­gen lei­ten, du lässt dich nur von Bud­dhas, durch die Be­geg­nung von Herz zu Herz lei­ten. Das ein­zi­ge, was ge­schieht, ist, dass wir ein­an­der be­geg­nen und wie­der aus­ein­an­der ge­hen. Be­geg­nen und aus­ein­an­der ge­hen. Das ma­chen wir schon seit hun­dert Tau­sen­den von Jah­ren. Wir sind uns al­le schon ein­mal be­geg­net. Ich ken­ne euch sehr gut. Men­schen sa­gen manch­mal zu mir: „Ich ken­ne Sie!“ Und dann sa­ge ich: „Ja, das stimmt.“ Ich weiß ge­nau, dass euch das auch schon pas­siert ist: Du be­geg­nest je­man­dem und denkst, dass du ihn oder sie schon ein­mal ge­trof­fen hast. Wir sind ihm oder ihr noch nie be­geg­net, aber wir sind auch noch nie aus­ein­an­der ge­gan­gen. Wir sind all­ge­gen­wär­tig, weil wir der ur­sprüng­li­che Geist sind. Es macht nichts, wie wir hin­schau­en, es wird doch im­mer al­les gut. In der Es­senz sind wir gut. Ma­che das wahr, las­se es sicht­bar wer­den, strah­le es aus.

Jetzt kön­nen wir an­fan­gen, zu ge­nie­ßen und zu spie­len. Das wün­sche ich euch für die­ses Retre­at. Er­in­ne­re dich dar­an, auch wenn das Retre­at wie­der vor­bei ist und du wie­der zu­rück­kehrst in wid­ri­ge Um­stän­de. Das mensch­li­che Le­ben schließt nun ja auch Lei­den mit ein. Wir be­grei­fen jetzt frei­lich, dass es nichts gibt, das nicht da­von be­trof­fen ist. Es gibt et­was, das sich er­hebt über Ge­burt und Tod, über Lei­den, Schmerz und Freu­de. Es ist zeit­los, mü­he­los und kennt kei­nen Tod. Ich hof­fe, du wirst das voll­stän­dig mit dem „Weis­heits­au­ge“ se­hen kön­nen. Se­hen al­lein ge­nügt je­doch nicht. Wir müs­sen uns da­durch auch ver­än­dern und das an­schlie­ßend in DIESEM Mo­ment le­ben. Das ler­nen wir in der Zen-Übung. Aber ich bin mir si­cher, dass ihr das auch hier ler­nen könnt. Wenn du al­so bei­spiels­wei­se die Auf­ga­be be­kommst, die Hal­le zu fe­gen, dann fe­ge ein­fach dich selbst weg! Fe­ge dann so, dass das, was zu­rück­bleibt, nichts an­de­res als „fe­gen!“ ist, und nicht mehr: „Ich fe­ge ge­ra­de!“ Dann ist da kein ein­zi­ges Pro­blem, das ver­spre­che ich dir, und wir wer­den kei­nen Krieg mehr auf die­ser Welt füh­ren. Der Frie­de sei mit euch.

(aus dem Nie­der­län­di­schen über­setzt von Do­ris Behrens)

Quel­le: Dit mo­ment is een ge­schenk, Zen­Le­ven Früh­jahr 2019