Sitzen wie ein Berg
Jiun Roshi gibt Anweisungen zum Zazen bei einem Sesshin.
Guten Morgen!
Was für ein schöner Tag! Ein Zen-Meister sagte einmal: Der Wind geht durch und durch. Hat das geklappt vorhin, als ihr draußen Geh-Meditation gemacht habt? Oder habt ihr versucht, gegen den Wind zu halten? Habt ihr euch ganz durchlässig gemacht? Oder habt ihr Widerstand geleistet? Der Wind ist der Wind. Und wer bist du? Darum geht es im Zen.
Beim Zen geht es nicht nur um das Sitzen auf deinem Kissen. Es geht darum zu realisieren und zu leben, was wir das befreite Selbst nennen. Wenn du dich darauf beschränkst, das Selbst auf dem Kissen zu realisieren, es aber nicht lebst, dann machst du einen Unterschied zwischen Zen und deinem Leben. Im Extremfall kann das bedeuten, dass du im Zen befreit bist und in deinem Alltagsleben nicht. Dennoch erleben wir das manchmal so. Denn so, wie wir in einem Sesshin sind – nach ein paar Tagen – so sind wir in der Tat nicht in unserem Alltagsleben. Das ist eigentlich ganz logisch, denn wir machen hier auch etwas anderes. Die Idee dabei ist, dass im Sesshin eine Vertiefung deines Zen-Lebens stattfindet.
Um Zen zu leben, um das befreite Selbst realisieren zu können, ist es wichtig, dass der Geist klar und ruhig ist. Nicht mehr so wild und unbeherrscht. Ich glaube, dass das in der heutigen Zeit schwieriger ist als früher. Vielleicht meine ich das, weil ich anfange, alt zu werden. Aber ich merke auch bei mir selbst, wie schwierig es ist, ruhig zu bleiben angesichts all dessen, was uns an Informationen zur Verfügung steht. Im Zen sprechen wir von monkey mind, vom Affengeist, der von Ast zu Ast springt und ständig etwas anderes festhalten will. Der Affengeist ist m.E. derzeit ziemlich dominant und präsent. Manchmal, wenn ich in meinem Zimmer sitze, fällt mir auf, was allein schon Computer und Telefon so alles zuwege bringen. All die Klingeltöne! All die Nachrichten: Sie haben eine neue Nachricht! Und von einigen weißt du: wenn ich die jetzt lese, kommen noch mehr. Aber man muss sehr standhaft sein, es nicht zu tun. Das ist das Training des Geistes, dass du im Stande bist, einfach hier zu bleiben, bei dem, was du jetzt tust.
Der erste Schritt, und vielleicht auch der letzte in der Meditation ist es, beim Sitzen still zu werden. Wenn wir einen klaren und ruhigen Geist wollen, kannst Du dir vorstellen, dass es hilft, still zu sitzen. Natürlich kannst du auch in der Bewegung ganz ruhig sein. Aber es fällt leichter, dahin zu kommen, das sozusagen wieder zu erlernen, wenn du als erstes auch deinen Körper still hältst.
Wenn wir also im Zazen sitzen, sitzen wir wie ein Berg. Es muss schon etwas passieren, wenn du ihn umwerfen willst. Du sitzt also mit einer breiten Basis und einem ganz kleinen Gipfel, und du bewegst dich nicht. Das nimmst du dann später mit, wenn du in die Aktivität gehst. Dann stehst du auf, du gehst, und versuchst gleichzeitig, das Bewegungslose von innen dabei mit zu nehmen. Daher empfehlen wir beim Sesshin immer, mit zusammengefalteten Händen auf Bauch oder Rücken zu gehen. Das hilft dabei, etwas bewegungsloser, stiller zu gehen. Es hilft auch, sich das Gehen bewusst zu machen. Deine Hände liegen auf deinem Bauch, auf deiner Mitte, und das erinnert dich ständig wieder an … an etwas. An ES, sagte meine Meisterin immer. Versuche, alles, was du tust, so still wie möglich zu tun. Es geht weniger darum, keine Geräusche zu machen, das ist ein schöner Nebeneffekt, sondern es hilft dir, dich ganz und gar dem hinzugeben, was du tust.
Wir sagen schon mal im Zen, dass du nichts anderes zu lernen brauchst, als die Teetassen auf den Altar zu stellen. Wie du deine Teetasse oder deine Kaffeetasse auf den Tisch stellst, da steckt alles drin. Aber weißt du – und das passt auch wieder ein wenig zu dem, was ich vorhin über den Affengeist sagte, der ständig nach etwas anderem verlangt – wenn wir das aber hier einen ganzen Tag lang üben würden, dann könntest du damit nichts anfangen und würdest sagen: Das mache ich nicht noch einmal. Vielleicht denkst du jetzt: Nein, ich würde das tun. Aber das glaube ich nicht. Denn meine Erfahrung ist, dass die Menschen, wenn ich sie z.B. bitte, einen ganzen Tag lang nur ihren Atem zu zählen, oft zu mir kommen und sagen: Ja, aber ich habe doch eine andere Übung gemacht, denn das fühlte sich viel besser an. Weißt du, ob das Hinstellen der Teetasse sich gut anfühlt oder nicht, ob du dich dabei wohl fühlst, ist nicht das Kriterium. Ehrlich gesagt, wenn du dich dem Hinstellen der Teetasse ganz hingibst, dann hast du keine Ahnung, ob das angenehm, gut, falsch oder wie auch immer ist. Kannst du dir vorstellen, dass das genau deswegen befreiend ist? Aber vielleicht sind wir am ersten Tag des Retreats noch etwas zu weit davon entfernt. Wir kehren wieder zu der Übung von heute zurück.
Du möchtest im Zazen sitzen. Du darfst alles benutzen, was du brauchst, um gut sitzen zu können. Wenn du ein eigenes Kissen hast, oder wenn du ein Handtuch dazu benutzen möchtest, macht mir das nichts aus, benutze es. Du sollst sitzen wie ein Berg. Wie auch immer du sitzt, auf einem Bänkchen, auf einem Kissen oder auf einem Stuhl, achte darauf, dass du eine leichte Wölbung im unteren Rücken hast. Das öffnet den Raum im Bauch für die Bauchatmung. Probiere das einmal selbst aus. Sitze einmal ganz in dich zusammengesackt auf einem Stuhl im Teeraum und versuche dann zu atmen. Schau, was dann passiert! Du kennst es bestimmt aus anderen Situationen, bei der Arbeit oder zu Hause. Du bist ganz nervös, du weißt, dass du dich auf den Rand von Emotionen zu bewegst. Wenn du dann auch noch zusammengesackt sitzt, dann kannst du es vergessen. Dann bist du ganz und gar der Bewegung der Emotionen ausgeliefert. Dann kannst du nicht an deinen Atem herankommen, denn der ist ganz ins Gedränge geraten.
Deshalb ist es wichtig, gerade und aufrecht zu sitzen mit einer leichten Wölbung im unteren Rücken. Brustbein nach vorn. Nicht übertrieben, nichts übertreiben. Nicht wirklich die Brust rausstrecken. Wenn du sitzt, dann überprüfe ab und zu, ob du dich selbst noch lang machst. Stell dir vor, dass du mit dem Scheitel tatsächlich an dem sprichwörtlichen Draht an der Decke hängst. Dadurch entsteht Raum. Entspanne dein Gesicht. Ich drücke das so aus: Setz dich so hin, dass du dich bereit fühlst zu lachen. Dann fühlt sich dein Gesicht offen an. Die Hände bilden zusammen das kosmische Mudra.
Willst du den Affengeist zur Ruhe bringen, dann tust du das, indem du deine Aufmerksamkeit auf einen Punkt, auf ein Ding richtest. Du wirst deinen Atem fühlen. Beginne damit, deine Aufmerksamkeit auf deinen Bauch zu richten. Spüre, wie im Bauch eine Bewegung durch Ausdehnen und Sich-zusammen-ziehen entsteht. In dieser Bewegung gehst du mit. Die sollst du „nehmen“ und ein ganz klein wenig steuern. Das machst du während der ersten Minuten. Du lässt den Bauch sich ein wenig ausdehnen. Aber es bleibt nicht beim Bauch, du spürst, dass sich auch der untere Teil des Brustkorbs ein klein wenig ausdehnt. Ich nenne das immer eine Art Wellenbewegung. Also dehnt sich bei der Einatmung zuerst eine recht große Welle im Bauch aus, aber die hört natürlich nicht am Zwerchfell auf, es gibt also auch etwas höher noch ein wenig die Bewegung des Ausdehnens. Das gleiche geschieht bei der Ausatmung. Du spannst die Bauchmuskeln ein wenig an und am Ende auch noch die Muskeln im Brustkorb. Das bewusste Steuern des Atems machst du nur mal zu Beginn, damit du den Atem wirklich gut spüren kannst. Wichtig dabei ist vor allem das Gefühl, dass der Bauch rund ist.
Und dann fängst du an zu zählen. Ach, das ist überhaupt kein Zählen, das weißt du. Du hast zehn Mantras, von eins bis zehn einschließlich. Ein Mantra ist ein Laut, meist ein einsilbiges Wort, in dem du dich ganz und gar verlieren kannst, dem du dich völlig hingeben kannst. Wie z.B. Oooooom. Oder Muuuuu. Aber jetzt hast du zehn. Auf die Ausatmung machst du Eiiiiiins. Dann kommt die Einatmung, du lässt sie kommen, und auf die folgende Ausatmung machst du Zweiiiiiiii. Hat mit Zählen nichts zu tun. Das sind Mantras. Sie helfen dir, ganz und gar dahinein zu gehen, dich ihnen ganz hinzugeben, dich darin zu verlieren. Aber keine Angst! Du kommst immer wieder zurück. Und eigentlich bist du auch nicht wirklich weg. Was verschwindet, ist die Identifikation mit einer Vorstellung von dir selbst. Und davon willst du weg, denn sie bringt nur Leid. Ich mache das doch niemals gut, findest du. Das ist normal im Zazen. Gib dem Gedanken keine Chance. Mit all deiner Energie gehst du voll und ganz zu Eiiiiiins. Mit aller Energie, aber nicht mit allerlei Anspannung. Indem du damit anfängst, die Rundheit des Bauches zu spüren, das Große des Bauches, das Sitzen wie ein Berg, verhinderst du jegliche Anspannung. Darum steuerst du zu Beginn deinen Atem mit den Bauchmuskeln.
Also tust du etwas im Zazen. Zazen ist keine Entspannung. Es kann die Folge von Zazen sein, dass du danach entspannt bist, aber Zazen soll keine Entspannungsübung werden. Du brauchst eine gewisse Grundspannung. Es geht also darum (nicht nur im Zazen, außerhalb davon auch), immer wieder, in diesem Moment, das Gleichgewicht zwischen Anspannung und Entspannung zu finden. Behalte im Gedächtnis heute, dass du zur Ruhe im Atem kommen willst. Gebrauche den Atem, um wunderbar darin mitzugehen. Andere Ziele gibt es nicht. Du brauchst nicht mehr Energie zu bekommen oder wacher zu werden oder…was auch immer du sonst noch im Zazen willst. Nichts davon. Das ist es nicht. Es gibt nur eins, was du tust, nämlich im Atem sitzen. Das Atmen hat kein Ziel.
Und versuche, es ohne dich selbst zu beurteilen zu tun. Ohne zu denken: Es ist gut oder es ist nicht gut. Die Basis, die Essenz ist, dass du dich selbst akzeptierst wie du jetzt bist. Ich beschäftige mich seit 36 Jahren mit Zen, und ich wüsste wirklich nicht, was ein gutes oder ein schlechtes Zazen ist. Ernsthaft, ich weiß es nicht. Ich weiß wohl, dass alles, was ich bisher getan habe, dazu beigetragen hat, dass ich bin wie ich bin. Aber jetzt sagen, es war jenes Zazen, das war ein gutes Zazen, dadurch … nein, nein, nein. So ist es nicht. Schau dich um! Schau dir die Natur an. Gibt es etwas in der Natur, das nicht gut ist? Vielleicht mögen wir etwas nicht, wir möchten, dass es anders ist, aber gibt es etwas, das an sich nicht richtig ist?
Gib dich dem hin, was da ist. Mach es dir ganz einfach heute. Tu so, als säßest du zum ersten Mal. Und sorge dafür, dass du heute zufrieden bist. Wenn du merkst, dass du denkst, es gehe gar nicht gut, dann sage sofort: Stop. Ich bin zufrieden. Ganz einfach sagen: Ich Bin Zufrieden. Punkt. Das ist die Ruhe, die Gelassenheit des Geistes. Dass du zufrieden bist. Mach dir das zum Geschenk. Ich kann dir das nicht geben, das kannst nur du selbst. Zähle jetzt ganz einfach deinen Atem.
Dann wird das heute ein sehr guter Tag.
(aus dem Niederländischen übersetzt von Doris Behrens)
Quelle: Zitten als een berg, ZenLeven Frühjahr 2018