Eine unstillbare Neugierde brachte mich zu Zazen

Ein In­ter­view mit Phil­ip Seligmann

Phil­ip Se­lig­man hat Noor­der Po­ort seit der Grün­dung bei der Ein­füh­rung der so­zio­kra­ti­schen Or­ga­ni­sa­ti­ons­form un­ter­stützt. Seit 2006 ist er Vor­stands­mit­glied. Th­rees Vo­s­kui­len und Myo­ko Sint be­such­ten ihn in sei­nem Wohn­ort Den Burg auf der Wat­ten­in­sel Texel.

Wir ver­brin­gen den Mor­gen im Ca­fé beim Strand­pfahl Nr 9. Dort­hin fuhr Phil­ip, so­lan­ge er dies noch konn­te, oft mit sei­ner Frau An­na auf dem Fahr­rad. Das Meer ist auf­ge­wühlt bis an die Dü­nen und star­ker Wind, Re­gen und Sand peit­schen ge­gen die Schei­ben des Win­ter­gar­tens. Hin­ter ei­ner Tas­se Kaf­fee und ei­nem Brow­nie sitzt Phil­ip be­reit für das, was kom­men mag. Ei­ne klei­ne, be­sorg­te Be­mer­kung über den Zu­stand der Welt ern­tet di­rekt ei­nen Kom­men­tar: „Über den Zu­stand der Welt ha­be ich kei­ne Mei­nung, über die heu­ti­ge Eve­ne­men­ti­tis bin ich nicht so er­freut. Al­les muss im­mer auf­ge­hübscht wer­den.“ Auf mei­ne Be­mer­kung, dass die See wüst ist, re­agiert er mit: „Die See ist auf­ge­wühlt.“ Die­se Ge­nau­ig­keit im Ge­brauch der Spra­che wird im­mer wie­der wäh­rend des In­ter­views auf­tau­chen. Es kenn­zeich­net die Art, in der Phil­ip denkt, sei­ne Ge­dan­ken ord­net und dann erst spricht.

Phil­ip hat das re­spek­ta­ble Al­ter von 90 Jah­ren er­reicht. In sei­ner Stim­me liegt ei­ne kräf­ti­ge Prä­senz. Sein Geist ist klar und kör­per­li­che Un­an­nehm­lich­kei­ten wer­den höchs­tens da, wo nö­tig, als Fakt er­wähnt. Da­bei klingt nir­gends Schmerz oder Kla­ge durch. Doch ei­ne von die­sen gro­ßen Un­an­nehm­lich­kei­ten muss wohl sein, dass Phil­ip seit ei­nem hal­ben Jahr na­he­zu blind ist. Wir kön­nen uns das nur schwer­lich vor­stel­len, denn all die Stun­den, die wir mit­ein­an­der spra­chen, wa­ren sei­ne gro­ßen brau­nen Au­gen über dem wei­ßen Stop­pel­bart be­son­ders prä­sent in sei­nem mar­kan­ten Gesicht.

Kir­che von Den Hoorn

Willst du et­was über dein Le­ben erzählen?
Ich ha­be im­mer das va­ge Ge­fühl ge­habt, dass mir nichts pas­sie­ren kann, dass ein Glücks­en­gel auf mei­ner Schul­ter sitzt. Ich ha­be nie­mals sehr an mir ge­zwei­felt. Das kam viel­leicht da­durch, dass ich als Kind sehr er­wünscht war, selbst schon in der Ge­bär­mut­ter. Mei­ne Mut­ter war acht­und­zwan­zig, als ich 1927 ge­bo­ren wur­de. Sie war die En­ke­lin des so­zi­al-an­ar­chis­ti­schen Vor­ar­bei­ters Do­me­la Nieu­wen­huis. Rech­te für al­le, ve­ge­ta­ri­sches Es­sen und kein Al­ko­hol wa­ren ih­re Le­bens­re­geln. Ich ha­be in­so­fern wohl et­was von dem re­vo­lu­tio­nä­ren Blut ge­erbt, als ich mich be­reits im Al­ter von acht Jah­ren bei al­lem frag­te: Ist das wirk­lich so? Und: Hat es auch noch an­de­re Seiten?

Mein Groß­va­ter vä­ter­li­cher­seits ver­ließ Deutsch­land und ging in die Nie­der­lan­de, nach­dem er mit ei­nem deut­schen Ar­mee­of­fi­zier in Streit ge­ra­ten war und ihm ei­nen Schlag ver­setzt hat­te. Mein Va­ter war jü­disch. Im Krieg ver­lor er so­fort sei­ne Ar­beit und muss­te auch ei­nen Da­vid­stern tra­gen. Doch weil mei­ne Mut­ter nach ei­ner nä­he­ren Un­ter­su­chung für arisch er­klärt wor­den war, ließ man ihn in Ru­he. Am An­fang des Krie­ges, 1941, er­litt er auf­grund der gan­zen Auf­re­gung ei­nen Schlag­an­fall und 1944 ist er nach ei­nem zwei­ten Schlag­an­fall gestorben.

Wir wohn­ten in Sche­ven­in­gen und wur­den eva­ku­iert, weil Sche­ven­in­gen in­ner­halb des At­lan­tik­walls [1] lag. Wir lan­de­ten zu fünft (mei­ne El­tern und drei Kin­der) in ei­ner Dach­kam­mer. Das war sehr schwie­rig, dar­um bin ich von dort zu ei­nem Schul­ka­me­ra­den nach Hau­se ge­gan­gen. Aber die Ge­fahr auf­ge­grif­fen zu wer­den, ich war in­zwi­schen sech­zehn, wur­de letzt­end­lich zu groß. Ab Sep­tem­ber 1944 wur­den näm­lich auch schon sech­zehn­jäh­ri­ge Jun­gen auf­ge­grif­fen, um in Deutsch­land zu ar­bei­ten. Dar­um muss­te ich ‚un­ter­tau­chen‘ bei Fräu­lein Maat, die schon acht­zig war. Über ihr wohn­te ei­ne Nach­ba­rin, die sehr ängst­lich war, dass ich ge­fun­den wer­den könn­te. Aber al­les ist gut ge­gan­gen, glück­li­cher­wei­se. Ich ha­be mich gut mit Fräu­lein Maat ver­stan­den. Sie sam­mel­te Holz in den Sche­ve­ni­ger Wäld­chen und kam mit gro­ßen Bün­deln Holz auf dem Rü­cken zu­rück. Die hack­te ich an­schlie­ßend im In­nen­höf­chen in Stü­cke, so dass der Ofen wei­ter bren­nen konn­te. Ich set­ze das Wort ‚un­ter­tau­chen‘ gern zwi­schen An­füh­rungs­zei­chen, weil ich mich nur zwei Mal wirk­lich ver­ber­gen muss­te, im Kriech­kel­ler und auch das ver­lief gut. Wir be­ka­men 400gr Brot pro Wo­che und es gab vie­le Zu­cker­rü­ben. Weil ich der ein­zi­ge war, der sie moch­te, ass ich ei­gent­lich den gan­zen Tag lang, ro­he Zuckerrüben.

At­lan­tik­wall bei Ca­lais (1944, Quel­le: Bun­des­ar­chiv)

Ich fin­de es schwie­rig zu sa­gen, in­wie­fern der Krieg mich ge­formt hat. Ich ha­be das Ge­fühl, dass ich im Krieg kei­ne ech­ten Trau­ma­ta er­lit­ten ha­be. Er hat in­so­fern viel Ein­fluss ge­habt, wäh­rend ich un­ter­ge­taucht war, bei­na­he voll­kom­men auf mich selbst ge­stellt war und vor al­lem sehr viel le­sen konn­te. Ich hat­te nur ei­ni­ge we­ni­ge Bü­cher bei mir: Ho­mer, die Ge­dich­te von Mars­man, ein Buch von Du Per­ron und ein paar Ma­the­ma­tik­bü­cher; dar­in las ich sehr viel. Ich be­such­te bis zu mei­nem Un­ter­tau­chen das Gym­na­si­um van Den Haag, hol­te mir Leih­bü­cher, wo­von ei­ni­ge mich sehr beeindruckten.

Nach dem Krieg stu­dier­te Phil­ip Ma­the­ma­tik und Wis­sen­schafts­phi­lo­so­phie in Lei­den. Da­ne­ben be­such­te er noch vie­le an­de­re Se­mi­na­re, zum Bei­spiel über Ge­schich­te und Li­te­ra­tur. Le­sen blieb im­mer ei­ne sehr be­stim­men­de Richt­schnur. In sei­nem Ar­beits­le­ben tat er, wie er selbst sagt, so ziem­lich al­les. Er ar­bei­te­te im Phy­si­ka­li­schen La­bor von Phil­ips und gab Ma­the­ma­tik­un­ter­richt. Spä­ter ar­bei­te­te er als Sys­tem­ent­wick­ler in der In­for­ma­tik. Es wur­de ihm da­bei lang­sam be­wusst, wie wich­tig es beim Ent­wurf tech­ni­scher Sys­te­me ist, aus­zu­ge­hen von der Art, wie der zu­künf­ti­ge Be­nut­zer denkt. Er wur­de dar­um Mit­glied ei­ni­ger Ar­beits­grup­pen, die sich mit den mög­li­chen so­zia­len Aspek­ten die­ser Ein­sicht aus­ein­an­der­setz­ten. Phil­ip ar­bei­te­te auch mit an der Ent­wick­lung neu­er Aus­bil­dun­gen in der In­for­ma­tik an der Uni­ver­si­tät. Auf Dau­er wur­de für ihn die Be­ra­ter­tä­tig­keit im­mer wich­ti­ger. In­no­va­ti­ve Pro­zes­se und die Klä­rung, wie die Kom­mu­ni­ka­ti­on dar­über funk­tio­niert, stan­den da­bei im­mer im Mittelpunkt.

Nach der Mit­tags­ru­he set­zen wir das Ge­spräch im Zim­mer der Pfle­ge­ein­rich­tung fort, die Phil­ip nun be­wohnt. Ein durch­schnitt­li­ches Zim­mer, wie an­de­re in die­ser Ein­rich­tung auch. Aber ir­gend­wie be­ein­dru­ckend ist die­ses Zim­mers. An der Wand hän­gen un­ter an­de­rem ein Holz­schnitt von Ho­ku­sai, ein Druck ei­nes Sti­ches von Go­ya und ein Ge­mäl­de von sei­ner Toch­ter Tes­ka Se­lig­mann. Auf Ti­schen ne­ben dem Bett ste­hen drei gro­ße Bild­schir­me. Mit ex­tra Hilfs­mit­teln kann Phil­ip noch auf dem Com­pu­ter le­sen. Wei­ter­hin lie­gen über­all, wo Platz ist, sau­ber ge­ord­ne­te Sta­pel Pa­pier. Der vol­le Bü­cher­schrank ist si­cher auch nicht durch­schnitt­lich. Es ist nicht ein­fach, hier ei­nen Sitz­platz zu fin­den, um hoff­nungs­lo­sem Su­chen vor­zu­beu­gen, müs­sen die Pa­pier­sta­pel ganz ge­nau auf ih­ren Plät­zen lie­gen blei­ben. Phil­ip nimmt mit­ten im Zim­mer auf sei­nem Rol­la­tor Platz, wo er den gan­zen wei­te­ren Nach­mit­tag kom­for­ta­bel sitzt.

Was ist dei­ne Ver­bin­dung mit dem Bud­dhis­mus und was weck­te dein In­ter­es­se daran?
Mei­ne ers­te Be­kannt­schaft mit dem Bud­dhis­mus mach­te ich durch das Buch: Die Zu­kunft der Re­li­gi­on von Ves­t­di­jk. Was er über die Re­li­gi­on oh­ne Gott sag­te, fas­zi­nier­te mich. Aber ich wuss­te auch so­fort, dass ich dem mein Le­ben nicht aus­schließ­lich wid­men woll­te. Auf die Dau­er wur­de es al­ler­dings ei­ne Quel­le blei­ben­der In­spi­ra­ti­on. Nach ei­ner Wei­le nahm ich An­fang der acht­zi­ger Jah­re, ge­mein­sam mit mei­ner Frau An­na, an ei­nem Kurs bei Ni­co Ty­de­man im Kos­mos in Ams­ter­dam teil. Erst ei­ne Stun­de sit­zen, kin­hin lau­fen und wie­der sit­zen und da­nach im­mer ei­ne span­nen­de Stu­di­en­klas­se über al­ler­lei Fa­cet­ten von Zen. Das ha­ben wir jah­re­lang ge­macht. Von die­sem Kurs ha­be ich im­mer ei­ne Aus­spra­che von Do­gen be­hal­ten: „Was nicht ge­sagt wur­de, hat sich nicht ma­ni­fes­tiert.“ Ich ging auch zum daisan, dem per­sön­li­chen Ge­spräch mit Ni­co. Er gab mir ein ko­an: „Stop­pe das den­ken.“ Ich be­griff ir­gend­wann, dass ich ei­ne nicht-in­tel­lek­tu­el­le Ant­wort ge­ben muss­te. Ein­mal be­gann ich al­so ei­nen Zeh­ner in Stü­cke zu reis­sen, wor­auf Ni­co sag­te: Ho, ho. Ei­gent­lich war es kein Pro­blem, so ein Zeh­ner konn­te ge­klebt bei der Bank ein­ge­tauscht wer­den. Aber Ni­co fand die Ant­wort zu gekünstelt.
Spra­che ist sehr wich­tig für mich, aber es sind nicht so sehr die Be­grif­fe und die Din­ge an sich, son­dern vor al­lem das Ver­hält­nis zwi­schen den Be­grif­fen und den Din­gen, was wich­tig ist.

Die­ses Bild von Tes­ka Se­lig­mann hängt bei Phil­ip an der Wand.

Phil­ip for­mu­liert sei­ne Sät­ze sehr prä­zi­se. Dem ge­hen oft lan­ge Pau­sen und Stil­le vor­aus. Die tie­fe Er­kennt­nis, dass Den­ken und Spra­che nicht im­mer aus­rei­chend sind, durch­drang ihn be­reits in den sieb­zi­ger Jahren.

Was brach­te dich zu Za­zen, zum Sit­zen auf dem Kissen?
Schon in den frü­hen sieb­zi­ger Jah­ren hat­te ich das Ge­fühl, dass ich in mei­nem Den­ken, wel­ches ich als ad­äquat und viel­sei­tig be­ur­teil­te, doch et­was fehl­te. Za­zen war am An­fang ein Ex­pe­ri­ment, ge­kop­pelt an ei­ne un­still­ba­re Neu­gier, mit Schutz vor Miss­brauch. Mit letz­te­rem mei­ne ich, dass ich auf­merk­sam blei­ben woll­te, dass ich mich nicht in­te­gral ver­lie­ren woll­te in ei­ner Bewegung.
In die­ser Zeit ha­be ich drei Ta­ge lang ei­ne „En­ligh­ten­ment In­ten­si­ve“ Grup­pe be­sucht. Das war ei­ne enor­me Er­fah­rung. Du bist drei Ta­ge lang an ei­nem Stück be­schäf­tigt mit der Fra­ge ‚Wer bin ich?’ und zu­al­ler­erst fand ich das lä­cher­lich. Am En­de des ers­ten Ta­ges merk­te ich, dass mei­ne Wut dar­über ver­sieg­te und dar­über wur­de ich dann wie­der­um sehr wü­tend. Es lief da­mals dort auch ein Hund her­um, den ich ganz und gar nicht aus­ste­hen konn­te. Am drit­ten Tag kam der Hund vor­bei­ge­lau­fen, um an mir zu schnüf­feln, wor­auf­hin ich ihn sehr ag­gres­siv an­schnauz­te. Mein Be­glei­ter er­schrak sehr über mei­ne Ag­gres­si­vi­tät, wor­auf ich sag­te: „Das bin auch ich.“ Und ge­nau die­ser Mo­ment brach­te mich da­mals wei­ter als das Den­ken. Das war ei­ne sehr tie­fe Erfahrung.

Du hast die so­zio­kra­ti­sche Or­ga­ni­sa­ti­ons­form in Noor­der Po­ort ein­ge­führt. Wie kam das?
Noor­der Po­ort war da­mals ge­ra­de von Prab­ha­sa Dhar­ma zen­ji ge­stif­tet wor­den. Sie stell­te die Be­din­gung, dass die Or­ga­ni­sa­ti­on des Zen­trums de­mo­kra­tisch sein muss­te. Ji­un ro­shi hat­te In­ter­es­se an der so­zio­kra­ti­schen Or­ga­ni­sa­ti­ons­form und so ka­men wir über das So­zio­kra­ti­sche Zen­trum in Rot­ter­dam, wo ich zer­ti­fi­zier­ter Be­ra­ter bin, mit­ein­an­der in Kon­takt. Ich war da­mals als Vor­stands­mit­glied an der Grün­dung der Stif­tung Bud­dhis­ti­scher Rund­funk (BOS) be­tei­ligt. Das wie­der­um kam, nichts ge­schieht zu­fäl­lig, nach ei­ner ‘zu­fäl­li­gen’ Be­geg­nung im Zug, die letzt­end­lich zur Ein­füh­rung der so­zio­kra­ti­schen Vor­stands­form beim BOS führte.
Da­mals be­schloss ich, mei­ne Be­ra­ter­tä­tig­keit bei der Ge­stal­tung der so­zio­kra­ti­schen Or­ga­ni­sa­ti­on Noor­der­po­ort, in der Form von Da­na zur Ver­fü­gung zu stellen.

Was siehst du als Es­senz der so­zio­kra­ti­schen Or­ga­ni­sa­ti­ons­form an?
Phil­ip hält mit uns hier­über ein aus­führ­li­ches Se­mi­nar, wo­von wir hier nur ei­nen klei­nen Teil wie­der­ge­ben möch­ten. In ei­ner fol­gen­den Aus­ga­be wer­den wir aus­führ­li­cher auf die­se Or­ga­ni­sa­ti­ons­form zu­rück­kom­men [2].
Die Es­senz der Me­tho­de ist, dass In­di­vi­du­um, Or­ga­ni­sa­ti­on und re­le­van­te Kon­tex­te gleich­wer­tig sind. In bud­dhis­ti­schen Ein­sich­ten steckt viel Pro­zess­erfah­rung und die so­zio­kra­ti­sche Me­tho­de kann gut da­zu pas­sen. Ei­ne wich­ti­ge Ba­sis­re­gel ist, dass das Kon­sens­prin­zip die Ent­schei­dungs­fin­dung be­stimmt. Kon­sens als Ba­sis der Ent­schei­dungs­fin­dung be­deu­tet, dass erst ei­ne Ent­schei­dung ge­fal­len ist, wenn kei­ner der An­we­sen­den be­grün­de­te und über­zeu­gen­de Be­den­ken ge­gen die­se Ent­schei­dung mehr ein­bringt. Viel­leicht fin­dest du selbst ei­ne an­de­re Lö­sung bes­ser, aber wenn du der Mei­nung bist, dass der Be­schluss kei­nen ir­rever­si­blen Scha­den an­rich­tet, dann er­klärst du dei­nen Kon­sens, dein Ein­ver­ständ­nis. Bei Grund­satz­ent­schei­dun­gen auf der Ba­sis des Kon­sens muss je­der sich in die Ent­schei­dung fü­gen kön­nen. Das ist ein gro­ßer Unterschied.

In der Or­ga­ni­sa­ti­on Noor­der Po­ort ha­be ich von An­fang an zwei Be­rei­che de­fi­niert. Der spi­ri­tu­el­le Be­reich ist der Be­reich des Meis­ters und der hat dar­in als ein­zi­ger Wei­sungs­be­fug­nis. Al­le Be­schlüs­se im Rah­men des Zen­trai­ning ge­hö­ren da­zu. Der an­de­re Be­reich ist der or­ga­ni­sa­to­ri­sche und die­ser ist so­zio­kra­tisch ge­stal­tet. Die­ser Be­reich ist or­ga­nisch in Rin­gen struk­tu­riert. Der Be­ra­tungs­pro­zess, der in den ver­schie­den Rin­gen statt­fin­det macht die Or­ga­ni­sa­ti­on of­fen, le­ben­dig, ziel­ge­rich­tet und transparent.

Es ist ei­ne Or­ga­ni­sa­ti­ons­form, in der Gleich­wer­tig­keit durch und durch zu ih­rem Recht kommt. Selbst im Ge­setz ist fest­ge­legt, dass dort, wo laut Sat­zung fest­ge­schrie­ben ist, dass ei­ne Or­ga­ni­sa­ti­on nach so­zio­kra­ti­schen Prin­zi­pi­en auf­ge­baut ist und funk­tio­niert, kein Be­triebs­rat ein­ge­rich­tet wer­den muss.

Ob­wohl der Zen­bud­dhis­mus ei­ne enor­me Quel­le der In­spi­ra­ti­on ist, hast du kei­ne Ge­lüb­de ab­ge­legt und bist kein Mit­glied ei­ner Sang­ha. War­um nicht?
Ja, der Zen­bud­dhis­mus in­spi­riert mich sehr, ich sit­ze re­gel­mäs­sig in Za­zen. Die es­sen­ti­el­le Quel­le der In­spi­ra­ti­on im Bud­dhis­mus ist für mich die all­ge­mei­ne Ver­kör­pe­rung der be­din­gungs­lo­sen Ak­zep­tanz (von dem was ist). So­wie die ste­te Er­mu­ti­gung zur Auf­merk­sam­keit und zum Hel­fen, da wo es mög­lich ist. Als ich mich da­mals so in­ten­siv mit dem Zen­bud­dhis­mus be­schäf­tig­te, ha­be ich mich in ei­nem be­stimm­ten Mo­ment ge­fragt, war­um ich mich selbst dann ei­gent­lich nicht Zen­bud­dhist nen­nen woll­te. Die Ent­schei­dung ha­be ich da­mals ge­trof­fen. Ich nen­ne mich selbst Zenbuddhist.

Phil­ip an der stür­mi­schen See

Als wir ihn noch­mals fra­gen, war­um er sich doch nie ei­ner Sang­ha an­ge­schlos­sen hat, folgt erst ei­ne lan­ge Stil­le, in der er in sich selbst nach den rich­ti­gen Wor­ten sucht. End­lich sagt er:

Weil ich das Wort­lo­se so­wohl be­reits ge­fun­den ha­be, als im­mer noch am Fin­den bin. Bei­des. Gleich­zei­tig wür­de ich gern bei Ji­un ro­shi noch ein Ko­an­stu­di­um ma­chen, aber da­zu ha­be ich kei­ne Mög­lich­keit mehr. Ich wür­de das un­ter an­de­rem gern, weil Ji­un ro­shi ge­sagt hat: ‘Wenn du ein Ko­an auf­löst, dann löst du dich selbst auf.’

Was ist dein Ein­druck von den Ent­wick­lun­gen in Noor­der Po­ort? Und was wür­de dein Rat für die Zu­kunft der Noor­der Po­ort sein?
Es läuft sehr gut in Noor­der Port. Es wird stets dar­über re­flek­tiert, wie man den Ein­fluss und die Le­bens­fä­hig­keit des Zen­trums noch ver­grös­sern könn­te. Auf­merk­sam­keit zu er­re­gen, oh­ne zu mo­disch zu wer­den ist wich­tig für Noor­der Poort.
Statt nett, muss es vor al­lem span­nend sein. Die Ge­schich­te (ver­haal) muss trans­por­tiert (ver­voert) wer­den, nach­voll­zieh­bar (te vol­gen) sein und ver­wirk­licht (ver­wer­ke­li­jkt) wer­den kön­nen; das ist mein Rat: vier v’s.

Nach al­lem, was wir heu­te be­spro­chen ha­ben, scheint es, als ob du vor al­lem ein Su­chen­der bist. Stimmt das?
Nein, das stimmt nicht. Ich bin vor al­lem neu­gie­rig. Ich wür­de zum Bei­spiel ger­ne noch ein paar Jah­re ver­fol­gen, wie die Ent­wick­lun­gen in der Wis­sen­schaft wei­ter ge­hen. Ich bin ein For­scher und ein Ge­ne­ra­list, der durch Zu­fäl­lig­kei­ten und aus ver­schie­de­nen Ecken Din­ge kom­bi­niert zu et­was, dass brauch­bar und wert­voll ist.

Am En­de ei­nes oft be­rüh­ren­den Ta­ges auf Te­xel, voll Sturm und Re­gen­schau­ern fragt Phil­lip: ‘Kennt ihr den Dich­ter Ri­chard Min­ne?’ Nein, den ken­nen wir nicht. Er war ein Flä­mi­scher Dich­ter. Phil­lip deklamiert:

Früh­lings­fan­fa­re
Der Früh­ling kommt so tap­fer an.
Obo­en sind es und sil­ber­ne Flöten.
Die Wit­we schaut zum ers­ten Mal wie­der nach draus­sen, zieht ih­re bun­te Ja­cke wie­der an.

[1] Der At­lan­tik­wall war ei­ne tau­send Ki­lo­me­ter lan­ge Ver­tei­di­gungs­li­nie, be­stehend aus Bun­kern, Ka­no­nen und Mi­nen­fel­dern, die Deutsch­land wäh­rend des zwei­ten Welt­krie­ges ent­lang der Küs­te der be­setz­ten Ge­bie­te an­ge­legt hat, um ei­ne In­va­si­on der Al­li­ier­ten zu verhindern.
[2] Wer jetzt mehr wis­sen will über So­zio­kra­tie: www.sociocratie.nl

Aus dem Nie­der­län­di­schen von Sig­run Lobst und Pe­ter Trapet

Quel­le: Een in­ter­view met Phil­ip Se­lig­mann, Zen­Le­ven Herbst 2017