Dharma-Vortrag von Jiun Roshi
Guten Morgen!
Auf dem Zen-Kalender stand einmal: A sage has no self, but there is nothing that is not himself.
Ein Weiser hat kein Selbst, aber es gibt nichts, das nicht sein Selbst ist.
Wir alle haben irgendwann einmal mit Zen begonnen – warum?
Meditation ist gut – macht ruhig, macht den Kopf leer, macht glücklich, dient der besseren Konzentration – lauter Aussagen, bei denen der persönliche Nutzen im Vordergrund steht.
Sobald du den Zen-Weg etwas weiter gegangen bist, verstehst du, dass es um mehr geht. Es beginnt natürlich bei uns selbst, aber es hört da nicht auf.
Als du den Zen-Weg gewählt hast, hast du möglicherweise beschlossen, dein Leben zu verändern. Zen bedeutet, dich als befreites Wesen zu verwirklichen, sodass du zufrieden sein und anderen helfen kannst. Zunächst geht es also darum, dich als befreites Wesen zu verwirklichen. Das Ziel von Zen ist es nicht, glücklich, ruhig und konzentriert zu sein, nein, es geht um das frei werden, und in der Folge kannst du glücklich sein, d.h. zufrieden mit dem, was ist, im Extremfall kann das sogar bedeuten, dass du deinen Frieden im Unglücklichsein findest. Auf dieser Basis kannst du anderen helfen. Der Weg der Befreiung dient also nicht dem Zweck, von niemandem etwas und nichts mehr zu brauchen, er hat nichts mit Gleichgültigkeit zu tun. Der Weg der Befreiung bedeutet, dass du in Harmonie mit der Welt und den Menschen um dich herum lebst.
Im Zen beginnen wir unsere Buddha-Natur zu erkennen; in der Begrifflichkeit des Buddha: anatta, das Nicht-Selbst zu erkennen.
Alles, was ist, auch was wir Selbst nennen inbegriffen, hat keine selbstständige, dauerhafte Substanz. Alles ist leer. Leer, sunyata, bedeutet nun nicht die Abwesenheit von etwas, wie z.B. eine Tasse leer sein kann. Leerheit bedeutet zugleich nichts und die Möglichkeit von allem.
Alle Dinge sind Erscheinungen, die nicht ohne die Leere existieren können.
Nicht-Selbst bedeutet also nicht, dass ich nicht existiere. Was wir Ich nennen, ist eine Reihe von Erscheinungen, die durch die zugrundeliegende Leere möglich werden. Diese Reihe von Erscheinungen gibt uns die Idee von Ich; Selbstbewusstsein entsteht also in der Erscheinungen. Im Zen nennen wir diese Erkenntnis das wahre Selbst erfahren.
Anders ausgedrückt: der Buddha erkannte, dass es kein Ich im Gegensatz zu einem anderen gibt, sondern dass das Ich als ein anderes erscheint und ein anderes als Ich.
Dies ist schwer zu verstehen, weil unser Bewusstsein in dem Augenblick des Reflektierens per definitionem dualistisch ist, oder nicht anders kann als zwischen „ich“ und „etwas“ zu unterscheiden. Durch die Meditation bereiten wir die Basis für die Erkenntnis der Nicht-Dualität. Prabhasa Dharma, zenji sagte so schön: In allen buddhistischen Übungen geht es darum zu realisieren oder zu verwirklichen, dass wir fortwährend eins sind in dem, was noch kein Begriffskonzept geworden ist. Das bedeutet freilich nicht, dass du nichts verändern kannst, solange du diese Erfahrung noch nicht hast. Es kann nämlich schnell gehen, aber es kann auch viele Jahre dauern, bis wir dieses wahre Selbst realisiert haben und mit den Konsequenzen leben können. In der Zwischenzeit kannst du darauf vertrauen, dass diese jahrhundertealte Einsicht eben ein gut gewähltes und von den Wissenschaften immer stärker untermauertes Wort ist.
Lasst uns nun einmal davon ausgehen, dass alles ein Ganzes ist. Alles, was dir begegnet, alles, womit du in Berührung kommst, ist gleichsam dein Körper. Wenn etwas in dir Schmerz oder Wut oder Freude hervorruft, ist das alles dein Körper. Wenn du die Dinge so siehst, findest du vielleicht besser die richtige Medizin. Derjenige, auf den du böse wirst, ist etwas in deinem Körper, vielleicht etwas, was krank ist: Was sollst du machen? Du musst etwas machen, denn wenn du deine Krankheit nicht behandelst, schreitet sie fort. Je nach Krankheit gibt es viele Therapien und Arzneien, und meistens ist es nicht nötig, den kranken Körperteil zu entfernen oder sofort Chemotherapie darauf anzusetzen. Und doch machen wir das mehr oder weniger, wenn wir z.B. aus dem Zorn heraus reagieren: etwas muss weg. Wenn du dir nun dessen bewusst bist, dass das alles dein eigener Körper ist, wirst du gewiss andere, bessere Heilmittel finden. Die Frage, die du dir immer wieder stellen kannst, ist folgende: Was hat, braucht oder hat nötig das, was da gerade so erscheint, als müsse es besser, gesünder werden?
Manchmal reicht ein direktes Eingreifen, manchmal musst du über einen längeren Zeitraum an der Genesung arbeiten, und manchmal brauchst du gar nichts zu machen. Es ist eben dein Körper.
Versuche einmal auf diese Weise an die Dinge heranzugehen, die dir begegnen, und als guter Arzt oder Therapeut machst du das mit Hingabe und der Absicht, zu helfen. Wenn du deine Schmerzen, deine Sorgen, deine Wut, deine Liebe gerade so betrachtest, als wären sie dein Körper, dann findest du die richtige Medizin. Die schwierigen Kollegen, der anspruchsvolle Partner, die Regierung, die verdrießliche Beschlüsse fasst, alles ist dein Körper. Was tun, wenn du hörst, dass in Afrika große Trockenheit herrscht? Es ist dein Körper, warum also nicht ein wenig bewusster mit Wasser umgehen? Du weißt, dass täglich so viele Kinder und Erwachsene verhungern. Was tun? – Es ist dein Körper. Du kannst eine Menge tun, du kannst eine Menge nicht tun, aber ich denke, dass du auf jeden Fall dankbar bist für das Essen, welches du bekommst und dass du kein Essen wegwirfst.
Lange es bei anderen suchend
war ich weit davon entfernt
jetzt gehe ich allein
und sehe es überall
es ist nur mein Selbst
und ich bin es nicht selbst
auf diese Weise es verstehend
kann ich so sein
wie ich bin
Tozan
Einen guten Tag!
Übersetzung aus dem Niederländischen von Doris Behrens